In Heidenheim verriet die Kabarettistin Teresa Reichl, warum sie den Schriftsteller Thomas Mann nicht leiden kann
Als die quirlige Teresa Reichl, erst einen Tag zuvor mit dem Bayerischen Kabarettpreis ausgezeichnet, schwungvoll die Bühne im Margarete-Hannsmann-Saal der Stadtbibliothek betrat, wurde sie mit Jubel empfangen. 40 Interessierte, von Jung bis zu älteren Semestern, verfolgten gespannt, was die auch beim Poetry Slam vielfach ausgezeichnete Germanistin zum Thema Literatur zu sagen hatte.
Sie stellte ihr Buch „Muss ich das gelesen haben?“, ein fundiertes und witziges Plädoyer für einen neuen Literaturkanon, so mitreißend vor, dass das Publikum aus dem Staunen und Lachen nicht herauskam. Man merkte der 27-Jährigen ihre Bühnenerfahrung und ihr großes Wissen um die deutsche Literatur an, ebenso ihr leidenschaftliches Anliegen: Wir brauchen einen neuen Kanon. Denn: Der vorherrschende deutsche Literaturkanon sei nicht für immer festgeschrieben, sondern er wurde, und dies belegt sie so, dass einem manchmal das Lachen im Halse stecken blieb, von einer winzigen gesellschaftlichen Minderheit festgelegt.
Fast sämtliche Werke, die als deutsche Literatur gelten, „die man gelesen haben muss“, sind nicht nur von weißen Männern aus der Oberschicht, meist christlich, heterosexuell, ohne Behinderung, „festgelegt“ worden, sondern die als einzig wahre Literatur bezeichneten und so in den Schulen vermittelten Werke stammen auch zu 90 Prozent von genau dieser Gruppe. Bis heute, auch im Studium von angehenden Lehrerinnen und Lehrern, werde dieser Kanon weitertransportiert, als sei er unverrückbar. Dabei werde die Literatur von Frauen, jüdische und islamische Literatur, von Sinti und Roma, von indigenen und queeren Autorinnen und Autoren sowie von behinderten Menschen und auch fantastische Komödien der Weltliteratur („Wir Deutschen haben Angst, uns zu amüsieren“) zu großen Teilen einfach ausgeblendet. „Es gibt nichts“, werde oftmals behauptet. Doch Reichl schafft Abhilfe.
Goethe verbot seiner Schwester Cornelia zu schreiben
Auf ihrer Homepage führt sie eine Reihe von literarischen Werken auf, die es wert sind, gelesen zu werden. Diese Liste führt nicht nur Werke von Frauen auf, zum Beispiel Goethes Schwester Cornelia, der dieser wegen ihres literarischen Talents verbot zu schreiben. Reichl erstellt einen Gegenentwurf zu den gängigen, oft für sie unfassbar langweiligen Autoren, deren Werke nicht das Geringste mit ihrer eigenen Lebenssituation zu tun haben.
Thomas Mann ist ihr Paradebeispiel eines weißen, reichen, elitären, undemokratischen, Frauen diskriminierenden und vollkommen ichbezogenen Autors, aber auch bei Goethe und vielen anderen bekannten deutschen Schriftstellern belegt Reichl ihre These von der umfassenden Diskriminierung im vorherrschenden Kanon. Es sei Zeit für ein Umdenken. Und dafür soll ihre Werkliste ein Anfang sein mit Literatur von anderen Gruppen der Gesellschaft, die es wert ist, gelesen und in den Schulen unterrichtet zu werden.
„Der Junge im gestreiften Pyjama“, das in den Schulen mit Abstand am meisten gelesene Werk über den Nationalsozialismus, solle ihrer Meinung nach komplett aus dem Unterricht verbannt werden. Sie begründet dies leidenschaftlich: „Der Autor ist ein Ire und hat weder den Holocaust erlebt noch die historischen Hintergründe seines Romans korrekt widergegeben!“ Es gebe so viel bessere Werke von Zeitzeugen zu entdecken – auch über den Islam und andere aus Unkenntnis diffamierte Gruppen, und diese Literatur könne dazu beitragen, Ängste abzubauen.
Nächste Lesung folgt am 28. November
Die nächste Lesung in der Stadtbibliothek wird ein „Sternekoch aus der Provinz mit Bundesverdienstkreuz“ halten: Am Dienstag, 28. November, liest Max Strohe aus „Kochen am offenen Herzen“.