Marlene Mohr, Traumapädagogin bei der Eva Heidenheim, berichtete im Jugendhilfeausschuss von ihrer Arbeit. Sie versuche, Jugendliche im Alter von 17 bis 23 Jahren zu erreichen, die sich in schwierigen Lebenssituationen befinden. „Viele flüchten aus ihren Familien, oft nicht, weil sie rausgeworfen werden, sondern weil sie sich selbst schützen müssen – vor Gewalt, Sucht oder Vernachlässigung“, sagte Mohr.
Jugendliche, die plötzlich auf sich allein gestellt sind, suchen Unterschlupf bei Bekannten, schlafen vorübergehend bei Freunden oder geraten in instabile, teils gefährliche Umfelder. „Es gibt keine sichtbare Jugendobdachlosigkeit wie in Großstädten. In Heidenheim sehen wir keine jungen Menschen mit Schlafsäcken in der Fußgängerzone – aber das Problem existiert trotzdem, nur verdeckter“, betonte Mohr.
Viele flüchten aus ihren Familien, oft nicht, weil sie rausgeworfen werden, sondern weil sie sich selbst schützen müssen – vor Gewalt, Sucht oder Vernachlässigung.
Marlene Mohr, Traumapädagogin Eva Heidenheim
Das Angebot „Move on“ wurde ins Leben gerufen, weil der Landkreis Heidenheim Bedarf für aufsuchende Sozialarbeit sah. Eine Stelle für Sozialarbeit in Heidenheim sowie eine Teilzeitstelle in Giengen wurden geschaffen. Der Kreistag beschloss 2020 einstimmig die Finanzierung gemeinsam mit den beiden Städten. Die Träger Eva Heidenheim sowie Caritas übernahmen die Umsetzung. Die erste Laufzeit von drei Jahren endete im April 2023. Aufgrund des anhaltenden Bedarfs wurde das Projekt um zwei Jahre verlängert – diese Laufzeit endet 2025. Nun steht eine neue Ausschreibung an, da die Stadt Giengen aus der Finanzierung ausgestiegen ist.
Vorurteil: das Heidenheimer Jugendamt als Kinderklauer
Viele Betroffene hätten große Hemmungen, sich Hilfe zu suchen. „Die Jugendlichen denken oft, sie seien hoffnungslose Fälle. Sie schämen sich, fühlen sich schuldig“, so Mohr. Besonders wichtig sei es deshalb, niedrigschwellige Zugänge zu schaffen. Die Kontaktaufnahme erfolge oft über Dritte – Bekannte, Jugendhäuser oder auch unkonventionelle Orte wie Geschäfte und Kneipen oder Tattoo- und Friseurläden. 70 solche Kooperationspartner habe sie bereits, die sich nach solchen schwierigen Fällen umhören, die auf ihr Angebot aufmerksam machen.
Die Jugendlichen denken oft, sie seien hoffnungslose Fälle. Sie schämen sich, fühlen sich schuldig.
Marlene Mohr, Traumapädagogin Eva Heidenheim
Auch Behördenängste spielten eine große Rolle: „Der Klassiker ist, dass Leute nicht zur Suchtberatung gehen, weil sie sicher sind, dass die sofort die Polizei anrufen“, erzählt Mohr. Ebenfalls ein solcher Glaube sei: „Das Jugendamt ist der Kinderklauer. Diesen Glauben müssen wir erst ausräumen.“ In manchen Fällen gebe es jüngere Geschwister im Hintergrund, weshalb die jungen Leute Gewaltfamilien nicht verlassen, weil sie ihre Geschwister nicht im Stich lassen wollten. Um Hürden abzubauen, begleitet Mohr ihre Klienten auch zu Ämtern oder hilft ganz praktisch – selbst, wenn das bedeutet, Anträge auf einem Mülleimer vor der Karl-Rau-Halle auszufüllen.
Zwei bewegende Schicksale aus Heidenheim
Mohr berichtete von zwei besonders eindrücklichen Fällen: Ein junger Mann kam mit einer Plastiktüte voller Briefe zu ihr – darunter eine Zwangsräumungsankündigung und ein Haftbefehl. Er war gesundheitlich in schlechtem Zustand und hatte keinerlei Unterstützung. Über zwei Jahre hinweg konnte er stabilisiert werden, sodass er nun in eine Ausbildung starten kann.
Das Jugendamt ist der Kinderklauer. Diesen Glauben müssen wir erst ausräumen.
Marlene Mohr, Traumapädagogin Eva Heidenheim
Eine junge Frau geriet in die Abhängigkeit eines Mannes. „Übernachtungsprostitution ist kein kleines Thema, das haben wir auch in Heidenheim“, sagte Mohr. Der Mann habe die Frau in die Sucht gezwungen und ihr gedroht: „Wenn du nicht meine Dienstmagd bist, schmeiße ich dich raus.“ Nach Hause konnte die Frau nicht zurück, da dort Gewalt herrschte. Erst durch intensive Begleitung durch Mohr fand sie eineinhalb Jahre nach dem ersten Kontakt den Weg in ein selbstbestimmtes Leben und eine Ausbildung. „Es ist nochmal gut gegangen“, sagte Mohr und betonte: „Es dauert Zeit, bis diese jungen Menschen wieder Vertrauen fassen und eine Perspektive entwickeln.“
Heidenheimer Kreisräte machen Weg frei für die Fortsetzung
Die Ausschussmitglieder sahen in dem Projekt einen wichtigen Beitrag zur Prävention. „Es ist eine freiwillige Leistung, aber eine sehr sinnvolle. Jeder Jugendliche, den wir vor einer dauerhaften Abhängigkeit vom Sozialsystem bewahren können, ist ein Erfolg“, betonte Landrat Peter Polta. Finanziert wird das Projekt mit Mitteln des Jobcenters (50 Prozent der Gesamtkosten) sowie Mitteln des Landkreises und der Stadt Heidenheim zu je einem Viertel der Kosten. 57.000 Euro trägt der Landkreis somit. Am Ende stand die einstimmige Entscheidung des Jugendhilfeausschusses: „Move on“ wird für zwei weitere Jahre fortgesetzt.
Die Zahlen hinter der Not
Mit „Move on“ erreichen die Sozialarbeiter immer mehr Menschen. Seit dem ersten Jahr stieg die Zahl der Personen stetig an, die beraten und begleitet wurden. Im Jahr 2024 hatte Marlene Mohr 121 Kontakte und führte 664 Beratungsgespräche.
Im Zeitraum von Juli 2023 bis Dezember 2024 verzeichnete sie 54 berufliche Integrationserfolge für die betreuten jungen Leute. Sei es, dass Kündigungen verhindert wurden oder die Menschen über Praktika, Ausbildung, FSJ, Minijob oder eine Arbeitsstelle und sogar mit Antritt eines Studiums den Weg aus dem beruflichen Abseits geschafft haben. Allein in 30 Fällen gelang es ihr, dass ihre Schützlinge wieder Anbindung ans medizinische System schafften, zwölfmal wurden Wohnungen vermittelt, in 41 Fällen wurden die Menschen an weitere Hilfen übergeben wie Schuldner- oder Suchtberatung.