Theologen, Politiker, Juristen, Menschenrechtler und Ethiker ringen um eine Antwort auf die Frage: Dürfen Menschen über das Ende ihres Lebens frei entscheiden? Der Heidenheimer Onkologe und Palliativmediziner Dr. Matthias Müller arbeitet mit schwer kranken Menschen, begleitet sie auch in den Tod – und bezieht im Interview Stellung.
Herr Müller, Sie sind leitender Oberarzt der Onkologie und Palliativmedizin in Heidenheim. Sie arbeiten mit Schwer- und Todkranken und begleiten Menschen am Ende ihres Lebens. Was erleben Sie hier: Kämpfe und Rebellion oder inneren Frieden?
Matthias Müller: Das wechselt ab. Kampf kann im besten Fall zum inneren Frieden führen, tut es aber nicht immer. Ich glaube, unterm Strich überwiegen der innere Frieden und ruhiges Abschiednehmen.
Während früher häufig die ganze Familie den Sterbenden zu Hause pflegte und begleitete, werden Sterbende heute oft ins Krankenhaus oder ins Hospiz gebracht. Haben wir den Tod verlernt?
In gewisser Weise schon. Ich sehe das aber nicht isoliert. Wenn Sie jetzt durch unsere Stationen gehen, ist das Durchschnittsalter 80 plus. Die Menschen werden älter. Es ist nicht unbedingt das Sterben, das ins Krankenhaus verlagert wurde, sondern generell die Betreuung und Begleitung der hochbetagten Menschen. Man denkt immer, dass es irgendwie weitergeht. Ich muss aber auch ganz klar sagen: In vielen Fällen ist ein Sterben zu Hause gar nicht möglich, weil es schlicht und einfach nicht zu stemmen oder auszuhalten ist. Sei es wegen der familiären Konstellation oder wegen medizinischer Dinge. Von dem her sind unsere Strukturen mit Hospizen, Palliativstationen und ambulanten Diensten gut – und ausbauwürdig.
Die moderne Medizin macht heute viel möglich. Zum Glück. Aber am Ende eines Lebens konfrontiert sie sich auch mit sich selbst. Nicht selten hält moderne Medizintechnik Menschen künstlich am Leben. Wann darf man einen Menschen gehen lassen? Und wann muss man es vielleicht auch?
Ich glaube, da existiert ein etwas verzerrtes Bild. Dieses Sterben an Maschinen wird in der Öffentlichkeit bedeutsamer wahrgenommen, als es im Krankenhaus praktiziert wird. Vielmehr werden für Schwerkranke im Team und im Dialog vorrausschauend Therapiebegrenzungen festgelegt, wann immer das so möglich ist. Im besten Fall kann uns das ein Patient noch selbst mitteilen.
Wo haben lebenserhaltende Maßnahmen ihre Grenzen?
Das zeigt sich häufig erst am Einzelfall. Vor allem muss man den Willen des Patienten beachten. Ich denke, die Diskussion zeigt auch, wie sehr die Medizin am Lebensende überschätzt wird. Medizin hat ihre Grenzen. Und wir haben Richtlinien, wann intensivmedizinische Behandlungen, also Wiederbelebungen zum Beispiel, nicht mehr indiziert sind.
Das kann einem Arzt schwerfallen, ist er doch per se verpflichtet, Leben zu retten.
Klar, das kann in manchen Situationen in Graubereiche führen. Klar ist jedoch: Ein Arzt muss nicht um jeden Preis Leben erhalten. Er muss auch würdevolles Sterben zulassen und ermöglichen. So schreibt es auch die Ärztekammer vor.
Wie handhaben Sie das am Heidenheimer Klinikum? Gibt es einen hausinternen Ethikrat oder ist der diensthabende Arzt auf sich allein gestellt?
Das ist immer eine Teambetrachtung. Erfahrene Pflegekräfte haben hier ein sehr gutes Gefühl, wie viele Ressourcen ein Patient noch hat. Wie anderswo auch gibt es bei uns am Klinikum eine Ethikkommission. Hier gehören Ärzte dazu, Pflegende, Seelsorger, Klinikfachkräfte und auch ehrenamtliche Laien, die den Fall unvoreingenommen sehen und den Diskurs anregen. Im Zweifelsfall können wir uns an diese Kommission wenden.
Es macht großen Sinn, eine Patientenverfügung zu haben. Wie sollten sich Menschen auf ihren Tod vorbereiten?
Man sollte sich unbedingt darauf vorbereiten. Im Idealfall verfasst man schriftlich eine Verfügung – da kann man auch seinen Arzt zurate ziehen. Es ist auch vorteilhaft, sich mit seinen Vertrauten über Wünsche für den Falle eines Falles auszutauschen. Wenigstens das sollte man tun. Das erleichtert uns einiges und wir können so handeln, wie der Patient es wünscht. Aber das erfordert natürlich, dass man sich mit dem Ende auseinandersetzt – und das kann schmerzlich sein.
Waren Sie schon mit konkreten Tötungswünschen konfrontiert?
Seitens meiner Patienten kommen solche Wünsche, ja.
Über das sogenannte Sterbenlassen durch Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen und die Gabe schmerzlindernder Mittel im Sterbeprozess herrscht weitgehend Konsens. Auch rechtlich sind die sogenannte passive und indirekte Sterbehilfe zugelassen. Es gibt aber auch andere Fälle: Menschen mit einer unheilbaren Krebsdiagnose, Menschen mit einer irreparablen Querschnittslähmung, einer schleichenden Nervenerkrankung oder einer diagnostizierten Demenz. Wenn diese Menschen einen Sterbewunsch haben, aber nicht im aktiven Sterbeprozess sind, bleiben der assistierte Suizid oder gar die aktive Sterbehilfe.
Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland verboten und es gibt auch keine Bestrebungen, dies zu ändern. Bei der aktiven Sterbehilfe würde der Arzt das todbringende Medikament verabreichen. Die Tatherrschaft liegt also nicht beim Betroffenen, sondern bei einem Dritten. Ein wesentlicher Unterschied zum assistierten Suizid. Hier stellt der Arzt zwar das todbringende Medikament zur Verfügung, einnehmen muss es der Patient aber selbst. Das steht in Deutschland nicht unter Strafe. Konkret geregelt ist es aber auch nicht. Assistierter Suizid wird in Deutschland sehr selten praktiziert, immer wieder gibt es in den Medien Berichte über Fälle. Aber es sind wohl Einzelfälle und belastbare Zahlen kenne ich nicht. Für uns Ärzte ist seitens des Berufsstandes definiert, dass wir Sterben erträglich machen und begleiten sollen. Ein Leben zu beenden, ist aber nicht unsere Aufgabe.
Ist das genug Handlungsspielraum für Sie als Arzt?
Für mich persönlich, ja. Ich kann mir aktuell nicht vorstellen, beim Suizid zu assistieren, ein tödliches Medikament zur Verfügung zu stellen. Das liegt außerhalb meiner Vorstellungskraft. Ich kann aber Stimmen verstehen, die hier nach einer klaren gesetzlichen Regelung rufen. Ein Modell ähnlich wie in der Schweiz könnte sinnvoll sein.
Sie sprechen es an: In der Schweiz ist der assistierte Suizid erlaubt. Sogenannte Sterbehilfevereine begleiten die Menschen in den Tod. Es gibt einen regelrechten Sterbetourismus: Menschen aus aller Herren Länder gehen dorthin, um ihr Leben zu beenden. Wie stehen Sie dazu?
Nun ja, die Menschen wollen diese Möglichkeit offenbar zumindest in Betracht ziehen können. Das sieht man an den Zahlen. Aber man muss hier auch genauer hinsehen. Es gibt seit Jahren gute Daten aus der Schweiz. Die Zahl der ärztlich assistierten Suizide verdoppelte sich alle fünf Jahre. Jetzt muss man sich aber anschauen, wer sich hier das Leben nimmt.
Und?
Da sind zum größten Teil Krebspatienten, die größte und am stärksten wachsende Gruppe sind aber betagte Menschen über 80, vor allem Frauen. Das muss man sich schon vergegenwärtigen. Es sind nicht die jungen Kranken, die beispielsweise an schweren neurologischen Krankheiten leiden. Es sind alte Menschen, wie beim „normalen“ Suizid übrigens auch. Es ist eindeutig ein Phänomen des Alterns.
Die Zahlen legen nahe, was viele vermuten: Eine offene Möglichkeit nach freier Entscheidung aus dem Leben zu scheiden, kann alten, kranken Menschen unheimlichen Druck machen, niemandem zur Last fallen zu wollen.
Ja, das erlebe ich auch immer wieder. Die Zahlen in der Schweiz sprechen hier doch eine deutliche Sprache und sollten uns aufhorchen lassen.
Und: Eine liberalere Handhabung der Sterbehilfe könnte eine Enttabuisierung zur Folge haben. Sprich, es könnte normal werden, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen. Eine Gefahr?
Ich weiß nicht, ob das eine ohnehin vorhandene Sehnsucht befriedigt oder eben die Akzeptanz einer neuen Option ist. Ich denke, eher Letzteres. Ich beobachte mit Sorge, dass der Suizid, als freiwillige Entscheidung selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, in unserer Welt zunehmend akzeptiert wird. Und ich frage mich, ob wir auch alles tun und uns genügend anstrengen, die Not, die hinter diesen Suizidwünschen oder -gedanken steckt, ausreichend zu ergründen und zu lindern. Eine Gefahr besteht für mich daher in nachlassenden Bemühungen um Suizidprävention, wenn der assistierte Suizid der einfachere Weg wäre.
Gibt es Ihrer Meinung nach ein Recht auf einen selbstbestimmten Tod?
Ja, das meine ich schon – im juristischen Sinne. Ich denke, die Menschen haben sich dieses Recht selbst zugestanden, über die Jahrhunderte erkämpft. Das ist auch interkulturell ein Trend. Die Religionen geben unterschiedliche Antworten darauf, sehen jedoch in der Mehrzahl das Leben als Gottes Geschenk, das der Mensch nicht selbst beenden darf oder soll. Tatsache ist aber, dass unsere Gesellschaft nicht mehr tiefreligiös ist. Und wenn man die Frage aus rein weltlich-juristischem Blickpunkt betrachtet, muss man sie definitiv mit Ja beantworten. Wir als Gesellschaft schützen das Recht des Einzelnen, sein Leben eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu gestalten, dazu gehört nach Meinung vieler auch das Recht, selbstbestimmt zu sterben.
Herr Müller, ganz persönlich: Sie sehen in Ihrem Beruf jeden Tag dem Tod in die Augen. Schätzen Sie die kleinen Dinge mehr? Können Sie bewusster leben?
Ich glaube schon. Der Job ist anstrengend. Bei uns auf der Palliativstation sterben pro Woche zwei Menschen. Mal sind wir mehr, mal weniger involviert, mal begleiten wir die Menschen schon länger, mal kennen wir sie erst seit Kurzem. Immer aber ist man betroffen. Es ist jedes Mal ein eigenes Schicksal. Das kostet Kraft. Aber ja, ich denke tatsächlich, dass ich durch meine Arbeit gelernt habe, die kleinen Dinge des Lebens mehr zu schätzen.
Haben Sie denn Angst vor dem Tod?
Angst vor dem Tod nicht, eher vor dem, was vorher passiert.
Wie möchten Sie von dieser Welt gehen?
Vermutlich möchte ich am liebsten im Kreise meiner Familie gehen können. Doch wer weiß.
Sterbehilfe ist nicht gleich Sterbehilfe
Die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe werden nicht selten in einen Topf geworfen. Doch man muss differenzieren.
Man spricht von passiver, indirekter oder aktiver Sterbehilfe. Davon zu unterscheiden ist der assistierte Suizid. Sterbehilfe bezieht sich immer auf Menschen, die im Sterbeprozess sind. Beim assistierten Suizid ist dies nicht der Fall, die Menschen könnten mit ihrer Grunderkrankung noch Jahre weiterleben.
Im Detail:
Die passive Sterbehilfe bezieht sich auf den Verzicht von lebenserhaltenden Maßnahmen.
Als indirekte Sterbehilfe bezeichnet man die Medikamentengabe zur Schmerzlinderung, wobei in Kauf genommen wird, dass dies das Leben verkürzen kann.
Als aktive Sterbehilfe wird die absichtliche und aktive Beschleunigung des Todeseintritts bezeichnet. Der Tod wird nicht in Kauf genommen, sondern beabsichtigt. Die Tatherrschaft liegt bei einem Dritten. Dies ist in Deutschland verboten.
Assistierter Suizid beschriebt die Beihilfe zur Selbsttötung eines Menschen, der sich nicht akut im Sterbeprozess befindet. Essenziell ist, dass die Tatherrschaft beim Betroffenen selbst liegt. Beihilfe zur Selbsttötung ist in Deutschland nicht strafbar. Eine klare gesetzliche Regelung fehlt bislang dennoch.
Das „Mehr“-Projekt der Seelsorgeeinheit Härtsfeld hat einen Themenmonat zur Sterbehilfe und assistiertem Suizid organisiert. Am Mittwoch, 20. November, referiert Dr. Matthias Müller zum Thema. Beginn ist um 19.30 Uhr im Dekanatshaus Heidenheim. Zum Abschluss der Themenreihe findet ein Diskussionsabend am Mittwoch, 27. November, in der Friedenskirche Dischingen statt.