Premiere

„Annie“ im Naturtheater Heidenheim: Eine gehörige Dosis Serotonin gegen die Große Depression

Dieses Leben mag stinken, dieses Musical hat hingegen den richtigen Riecher: „Annie“ feierte am Freitag im Naturtheater Heidenheim Premiere. Die HZ-Kritik:

Der Todestag des amerikanischen Traums lässt sich ziemlich genau datieren. Am 24. Oktober 1929, heute als Schwarzer Donnerstag bekannt, geht die US-Börse zu Boden und die Große Depression beginnt, ihre hässliche Fratze zu zeigen. Die Weltwirtschaftskrise ist geboren. Während eine Welle des sozialen Elends über das Land schwemmt, träumt die kleine Annie von etwas gleichermaßen Banalem wie Weltbewegendem: einer Familie. Die Geschichte des 11-jährigen Waisenmädchens erzählt das Naturtheater Heidenheim diesen Sommer auf der Freilichtbühne. Am Freitagabend war Premiere.

Hoffnung, Tapferkeit und grenzenloser Optimismus: Diese Eigenschaften teilen sich die Figur der Annie und das Naturtheaterensemble. Zumindest am Premierenabend. Wohl oder übel. Denn während Annie auf der Bühne ihr eigenes Schicksal in die Hand nahm, fand sich das Ensemble im Clinch mit den Elementen. Prasselnder Dauerregen verlangte viel von den Darstellerinnen und Darstellern ab. Und die? Lieferten alles. Chapeau!

Großartig tyrannische Heimleiterin in „Annie“

Eine, die ebenfalls alles – und noch mehr – verlangt, ist Miss Hannigan. Die Teilzeit-Waisenhausleiterin und Vollzeit-Schnapsdrossel drangsaliert ihre Schützlinge, wo es nur geht, lässt die Kinder putzen, serviert ihnen bestenfalls kalten Brei. Ganz wunderbar verkörpert von Bettina Ostermayer, spaziert Miss Hannigan mit Leichtigkeit zwischen ulkig und tyrannisch. Annie hat zumindest diese grausame Seite satt und flieht aus dem Heim. Hatte die 11-Jährige lange Zeit noch die Hoffnung, ihre Eltern würden sie – wie in einem Brief versprochen – eines Tages aus dem Waisenhaus abholen, glaubt Annie inzwischen selbst kaum mehr daran.

Während ihrer Flucht landet das Mädchen an einem noch trostloseren Ort: einem Elendsviertel voller Obdachloser, einer Hooverville. Annies Charme und Standfestigkeit vermögen es zwar nicht, den Pessimismus der Hooverville-Bewohner hinwegzufegen, von Hauptdarstellerin Luise Freys aufgeweckter Präsenz und herzlicher Manier lässt sich das Publikum hingegen überaus gerne einnehmen.

Dieses Leben stinkt! Die Waisenkinder in „Annie“ stehen unter der Fuchtel von Miss Hannigan. Foto: Markus Brandhuber

Annies Flucht misslingt, letztlich landet sie einmal mehr in Miss Hannigans Waisenhaus. Die Rettung tritt dort in Gestalt von Grace Farrell (Stephanie Seifert) durch die Tür. Als Privatsekretärin von Oliver Warbucks (Oliver von Fürich), seines Zeichens Milliardär, Industriemagnat und Wallstreet-Tycoon, wurde sie von diesem doch tatsächlich beauftragt, ein Waisenkind auszusuchen, dass die Weihnachtsfeiertage im Hause Warbucks verbringen darf.

Eine der großen Stärken des Regisseurs Max Barth ist es, dass er genau zu wissen scheint, wann in der Inszenierung geklotzt und wann gekleckert werden muss. Etwa beim Kostümbild. Die tristen, einheitsgrauen Gewänder der Waisen und Armen ergänzen sich prächtig mit den opulenten Aufmachungen der New-York-City-Schickeria. Auch das Bühnenbild – das man sicherlich nicht als schlicht bezeichnen könnte – hält sich angesichts der Menschenmassen auf der Freilichtbühne angenehm zurück. So wird Warbucks‘ geradezu lächerlich dekadenter Reichtum etwa vielmehr durch seine Armada an Bediensteten verdeutlicht, als durch seine palastgleiche Residenz. Und wenn die Menschen New Yorks die Bühne fluten und man sich kaum sattsehen kann vor lauter Details, gibt es auch hier im Hintergrund wenig, was von diesem Augenschmaus abzulenken vermag.

Musical „Annie“ vereint Gesang und Choreografie

Als Musical legt „Annie“ freilich großen Wert auf Musik. Hier findet das Stück die richtige Balance zwischen Sprechszenen und den durch die Bank überaus solide abgelieferten Gesangsparts. Als Musical kontert die Inszenierung zudem einen Makel, der sich im Naturtheater von Zeit zu Zeit einschleicht. Während bei Freilichtbühnenstücken bisweilen Tanznummern eingebaut werden, einzig und allein, damit eben Tanz stattfindet, profitiert „Annie“ davon, dass sich Gesang und Choreografie eben ganz wunderbar und organisch verbinden lassen. So wirken die Tänze in dem Abendstück niemals deplatziert oder unnötig, was nicht zuletzt erneut auf Max Barth zurückzuführen ist, der auch als Choreograf fungiert. Die von ihm entwickelten Bewegungen sind rasant, präzise und vor allem: machbar.

Tanzend, singend und feixend tritt Annie also in die ihr fremde High Society New Yorks ein, für sie die Chance, einmal selbst in den schimmernden Big Apple hineinzubeißen. Wie es nicht anders sein könnte, erobert Annie Warbucks Herz Stück für Stück, bis dieser sogar anbietet, das Mädchen zu adoptieren. Gleichzeitig spannt Warbucks die halbe Nation für die Suche nach Annies leiblichen Eltern ein. Hier wittern Miss Hannigans Ganoven-Bruder Rooster und dessen Freundin Lily Ramada ihre Chance.

Herrlich: (von links) Lily Ramada (Nicolette Kontopoulu), Rooster (Matthias Johnson-Wagner) und Miss Hannigan (Bettina Ostermayer). Foto: Markus Brandhuber

Die beiden geben sich als Annies verschollene Eltern aus, in der Hoffnung, so die von Warbucks in Aussicht gestellte Belohnung von 50.000 Dollar zu ergattern. Matthias Johnson-Wagner als Rooster und Nicolette Kontopoulu als Lily Ramadan zu beobachten, ist ein wahres Vergnügen. Während Stephanie Seifert und Oliver von Fürich souverän die Stimmen der Vernunft verkörpern, bilden Rooster und Ramadan die Antithese zu deren Gutmütigkeit. Laut, prollig, durchtrieben: In Kombination mit Miss Hannigan ist dieses Duo nicht nur gefährlich, sondern auch ein Heidenspaß.

Am Ende kommt es, wie es kommen muss: Die Farce der Hochstapler fliegt auf und Annie muss erfahren, dass ihre leiblichen Eltern bereits vor langer Zeit ums Leben gekommen sind. Umso froher ist sie, mit Warbucks trotzdem das gefunden zu haben, wonach sich der Rotschopf schon immer gesehnt hat: einer Familie. Was im Kitsch hätte ersaufen können, wird im Naturtheater herzlich – aber selten über die Maßen – dargestellt. „Annie“ ist genau das, was es sein will: eine gehörige Dosis Serotonin gegen die Große Depression.

Vorstellungen von „Hotzenplotz“ und „Annie“

„Annie“ wird immer freitags und samstags ab 20.30 Uhr aufgeführt. Zwei Sonntagsvorstellungen finden am 14. Juli und am 4. August, jeweils ab 18 Uhr statt. Die finale Aufführung ist am 17. August.

Karten für „Annie“ sowie das Kinderstück „Der Räuber Hotzenplotz“ sind im Pressehaus in Heidenheim sowie unter laendleevents.de erhältlich.

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