Einen Eindruck davon, wie es am 5. März auf dem Gelände eines Nattheimer Autohandels zugegangen sein könnte, lieferten die männlichen Mitglieder von zwei Heidenheimer Familien am Donnerstag vor dem Landgericht Ellwangen. In einer Pause der Verhandlung gegen einen 36-jährigen Heidenheimer, der an jenem Tag auf ein davonfahrendes Auto geschossen hat, kam es zu einer verbalen Auseinandersetzung, die zu eskalieren drohte.
Beteiligt waren die beiden 37 und 29 Jahre alten Brüder Y., die in dem beschossenen Audi A6 saßen und die vor Gericht als Nebenkläger auftreten. Ein Wortwechsel im Gerichtssaal wurde immer lauter, bis die beiden Opfer des Vorfalls schließlich aufstanden und auf Mitglieder der Familie O. zugingen, die als Zuschauer den Prozess verfolgten. Rund 20 Einsatzkräfte von Polizei und Justiz verhinderten eine weitere Eskalation. Wobei es bei der Auseinandersetzung ging, blieb unklar, da sie auf Türkisch geführt wurde.
Unklar blieb auch am zweiten Prozesstag, welchen Grund der Streit hatte, der der Schussabgabe am 5. März in Nattheim vorausging. Die drei Männer, die zur Familie Y. gehören, fuhren an diesem Tag nach Nattheim, um dort einen Konflikt mit der Familie O. im Gespräch zu klären. Im Zentrum des Treffens standen die 37 und 29 Jahre alten Brüder Y., die von ihrem 28-jährigen Cousin begleitet wurden, sowie drei Brüder aus der Familie O., von denen einer der 36-jährige Angeklagte ist.
Zeugen, die nicht aussagen
Aussagen vor Gericht wollen alle nicht mehr machen: Die Brüder O. berufen sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht, weil sie mit dem Angeklagten verwandt sind. Die Mitglieder der Familie Y. hingegen berufen sich auf den Paragrafen 55 der Strafprozessordnung, wonach Zeugen die Aussage vor Gericht verweigern können, wenn sie sich damit selbst belasten würden.
Direkt nach dem Vorfall im März wurden alle Beteiligten an der Auseinandersetzung von der Polizei befragt. Die Aussagen der Brüder des Angeklagten können allerdings im Prozess aufgrund des Zeugnisverweigerungsrechts nicht verwertet werden, die der drei Opfer hingegen schon. Deshalb waren am Donnerstag mehrere Polizeibeamte als Zeugen geladen, die diese Gespräche geführt haben. Eine Kriminalhauptkommissarin hat den 37-jährigen Y. noch am Tag der Tat vernommen. Er hat der Polizeibeamtin erklärt, dass die Familien O. und Y. eigentlich verwandtschaftlich miteinander verbunden sind, da seine Frau die Cousine einer Ehefrau der Brüder O. sei.
Einer soll gelogen haben
Schon bei einem Telefonat am Vorabend der Tat habe der Angeklagte ihm in einem Videotelefonat seine Waffe gezeigt. Mit dieser schwarzen Pistole soll er am 5. März auf das Auto geschossen haben. „Es sollte geklärt werden, wer lügt“, berichtete die Kommissarin. Derjenige, der lügt, sollte erschossen werden, habe der Zeuge ihr erzählt. Als die Mitglieder der Familie Y. am Tag der Tat auf dem Gelände des Nattheimer Autohandels ankamen, seien er und sein Bruder in den als Verkaufsraum dienenden Container gegangen, habe der 37-Jährige berichtet. Der Cousin wartete vor der Tür.
Im Container eskalierte das Gespräch, mit dem man den Streit eigentlich beilegen wollte, relativ schnell. Einer der Brüder O. soll geschrien und den 37-Jährigen auch körperlich angegriffen haben. Daraufhin verließen die Brüder Y. den Container, setzten sich zusammen mit ihrem Cousin wieder ins Auto und fuhren davon. Als das Auto auf der Daimlerstraße am Gelände des Autohandels vorbeifuhr, soll der 36-jährige Angeklagte vier Schüsse auf den Audi A6 abgegeben haben. Diese Vorwürfe bestreitet der Heidenheimer auch nicht, außerdem wurde die Tat von einer Überwachungskamera auf Video dokumentiert.
Da die hintere Fensterscheibe auf der rechten Fahrzeugseite zerbarst, hielt der 29-jährige Y., der das Auto fuhr, auf Höhe einer Tankstelle in Nattheim nochmal an. Die Insassen hatten befürchtet, der 28-Jährige auf dem Rücksitz sei von einer Kugel getroffen worden. Dies war aber glücklicherweise nicht der Fall, niemand wurde durch die Schüsse verletzt.
Als Kokain-Händler bezichtigt
Einen Hinweis auf die Hintergründe der Streitigkeiten brachte die Nebenkläger-Vertreterin Sarah Burkhardt ins Spiel: Bei der Aussage eines 61-jährigen Kriminalpolizisten, der vom Bruder des Angeklagten die Festplatten der Überwachungskameras ausgehändigt bekommen hatte, fragte sie gezielt nach einer Nachricht des Nattheimer Autohändlers an den Polizeibeamten, die dieser am Tag vor der Tat bekommen hatte. Tatsächlich fand der Polizist die WhatsApp-Nachricht auf seinem Handy und las sie vor. Der Bruder des Angeklagten schrieb darin: „Darf ich den Haupt-Kokainlieferanten in Heidenheim nennen? Das kommt aus ganz sicherer Quelle.“ Anschließend nennt er den Namen eines weiteren Bruders der beiden Opfer aus der Familie Y. und fügt an: „Ist vertraulich, darf nicht rauskommen.“
Der Kriminalkommissar sagte vor Gericht aus, er habe auf die Nachrichten nicht geantwortet, habe sie aber an die Rauschgiftermittlungsgruppe der Polizei weitergeleitet. Einen Zusammenhang mit der Tat, die einen Tag später geschah und in die Mitglieder beider Familien involviert waren, will der Polizist nicht gesehen haben.
Am ersten Verhandlungstag hatte der Angeklagte ausgesagt, dass der 37-jährige Y. im Auto ebenfalls eine Waffe gezogen habe. Dieses Thema spielte am zweiten Verhandlungstag wieder eine Rolle, als ein 49-jähriger Cousin der Brüder Y. als Zeuge aussagte. Er berichtete davon, dass ihn am Tag der Tat morgens ein unbekannter Mann angerufen haben soll, der ihm gedroht habe, ihn zu ermorden. „Ich komme nach Heidenheim und erschieße dich“, soll der Anrufer gesagt haben, so der Zeuge vor Gericht. Am Tag nach der Tat hat die Polizei ein Telefonat zwischen dem 49-Jährigen und einem der Brüder des Angeklagten O. abgehört, bei dem es darum gegangen sein soll, wer am Tag zuvor zuerst eine Waffe gezogen habe. Der 49-Jährige soll dabei gesagt haben: „Eine Waffe zu ziehen ist etwas anderes, als mit einer Waffe zu schießen.“
Prozess-Fortsetzung im neuen Jahr
Der Prozess gegen den 36-jährigen Heidenheimer, der sich wegen versuchten Totschlags und dem unerlaubten Führen einer Waffe verantworten muss, wird im neuen Jahr am Donnerstag, 9. Januar, um 9.30 Uhr vor dem Ellwanger Landgericht fortgesetzt. Der Mann, der sich der Verhaftung zunächst durch eine Flucht entzogen hatte und dann auf dem Flughafen von Sarajewo (Bosnien-Herzegowina) festgenommen wurde, soll bei der Attacke in Kauf genommen haben, die drei Insassen des Audi A6 zu töten.