Verdis „Don Carlo“: im Zeichen des Zeichens
Irgendwo? Nirgendwo? Überall? Gestern? Heute? Morgen? Fragen über Fragen. Und Antworten? Man wird sehen.
Giuseppe Verdi, „Don Carlo“. Um was geht’s? Um Politik zunächst einmal. Selbstverständlich. Und wie es immer war und ist und sein wird, kennt auch hier die Politik keine Gefühle, sondern Interessen. Sie kennt Ideen, aber keine Menschen. Außer Politikern. Da besteht ja wohl durchaus ein Unterschied. „Politiker und Menschen in aller Welt bereiten sich auf den Jahreswechsel vor“, vermeldete vor noch gar nicht so langer Zeit einmal der Südwestrundfunk am Silvesterabend in seinen Nachrichten. Was soll man dazu sagen?
Bei Giuseppe Verdi ist das politische Geschehen immer präsent, doch innerhalb dieses Rahmens handeln, dagegen sind selbst die Politiker nicht gefeit, alle Personen ausschließlich aus privaten Motiven.
Jeder ist eigentlich vor allem mit sich selber beschäftigt. Keiner traut dem anderen so recht. Und alle sind sie ziemlich erschöpft und haben sich heillos verirrt in einem mit enttäuschten Hoffnungen und geknebelten Gefühlen gepflasterten Labyrinth. Dass dies alles sehr deutlich wird, dafür sorgt Regisseur Georg Schmiedleitners intensive Personenführung, die nie einen Zweifel daran aufkommen lässt, wer hier mit wem was zu tun hat und was jeder in jedem Augenblick fühlt.
Macht und Freiheit
Aber wo sind wir? Und vor allem: Was hat diese Geschichte darüber hinaus mit unserer Lebensrealität zu tun? Klar, hier zerfällt ein Staat. Langsam, aber sicher. Doch wo und wann? Und wer oder was ist die totalitäre Macht, die in dieser Geschichte am Ende ja noch einmal obsiegt?
Hier lässt uns Georg Schmiedleitner betroffen, aber ein wenig ratlos im Bühnennebel stochern. Vielleicht liegt das daran, dass die Inszenierung auf maximalem Abstand zu plumpen Anspielungen auf die Tagesaktualität mit ukrainischen Flaggen etwa oder Kreml-Türmen gehalten werden soll. Oder aber er holt uns gerade damit ins Hier und Heute, indem ja weniger Ansichten oder Meinungen, sondern vielmehr absolute Bekenntnisse gefragt sind. Solche verweigert die Inszenierung nämlich konsequent und lässt den Betrachter damit für den Geschmack des politischen Zeitgeists fast schon etwas provozierend mit seinen Gedanken allein. Das wäre dann auch eine Betrachtungsweise.
Mit der Gedankenfreiheit in dieser Geschichte ist das ja bekanntlich ohnehin so eine Sache. Sie wird einerseits verwehrt – und deshalb andererseits gefordert. Jedenfalls im 16. Jahrhundert, in dem die Geschichte den Buchstaben im Libretto nach spielt und das in manchen Kostümen (Cornelia Kraske) durchaus noch aus einigen Nähten und unter so mancher Halskrause hervorlugt.
Auf der anderen Seite sind wir auf der Bühne – etwa am sich selbst mal wieder am meisten überzeugenden revoluzzernden Posa – durchaus auch mit heutiger Schlabber-Couture konfrontiert. Und würden die Höflinge nicht mit Leitz-Ordnern, sondern mit Laptops hantieren, dann könnte man sogar darüber diskutieren, dass die Gedanken inzwischen nicht mehr erraten werden müssen, sondern längst digital gelesen werden.
Kirche, König, Mieder
Auf eigene Spekulationen angewiesen bleibt man bei diesem Heidenheimer „Don Carlo“ auch hinsichtlich der Frage, wer denn nun am Ende noch einmal die Macht in Händen behält. Bei Verdi ist es die Inquisition. Kirche schlägt König. Darüber muss man sich heute bei uns keine Gedanken mehr machen. Aber nun läuft in dieser Geschichte, die Georg Schmiedleitner selbstverständlich mit heutigen Augen betrachtet, eben zwingend ein Großinquisitor herum. Für wen oder was steht der? Wer oder was ist heute die Macht, vor der selbst Staatenlenker einknicken?
Verdis zynischer Finsterling, Randall Jakobsh gibt ihn eiskalt und mit jeder Menge böser Basswucht, kommt bei Schmiedleitner als eine Art Queer-King (oder Queen?) mit Domina-Handschuhen und in einem Mieder, wie man es unter Reifröcken trug, daher. Jetzt aber? Ist diese wie auch immer geartete Macht in jeglicher Hinsicht so selbstgewiss unantastbar, dass sie sich nicht nur über jeden, sondern über alles hinwegsetzen kann, was möglicherweise für andere weiterhin gilt – die kurz nach Freiheit rufende öffentliche Meinung bringt sie jedenfalls im Handumdrehen zum verstummen – oder haben wir es hier womöglich mit der Versinnbildlichung des grenzenlosen Liberalismus zu tun, der sich mit der Auflösung aller traditionellen Werte und Bindungen beschäftigt und dazu nicht selten die veröffentlichte Meinung vor seinen Karren spannt? Rennt da nicht einer mit Kamera im Rittersaal rum?
Show und Hoffnung
Das wäre nicht zuletzt auch eine Erklärung für Stephan Brandtmayrs von einem verrutschten, aus der Fassung geratenen Peace-Zeichen dominierten Bühnenbild, denn jener Liberalismus nahm seinen großen Anlauf ja etwa in jener Zeit, als auch dieses Zeichen aufkam. Und wenn die Staatsmacht bei „Don Carlo“ durch nach außen wirkende öffentliche Zurschaustellungen von ihrem inneren Zerfall ablenken möchte, dann tut sie dies bei Brandtmayr gewissermaßen auf der Showtreppe, die wohl nicht nur deshalb rot getüncht ist, damit man das viele Blut, das von ihr aus vergossen wird, nicht bemerkt. Auch das hinter ihr gähnende schwarze Loch dieses staatgewordenen Kerkers für Menschlichkeit wird auf diese Weise bunt verborgen. Genauso gut jedoch könnte das Peace-Zeichen einfach dafür stehen, dass der Frieden auch zwischenmenschlich hier in keiner einzigen Konstellation funktioniert. Wie gesagt, bei Schmiedleitner weiß man diesmal nicht so recht . . .
Am Ende allerdings lässt er eindeutig keinen Ausweg zu. Das kleine Fünkchen Hoffnung, das bei Verdi weiterglimmen darf, weil Carlo, ehe ihn die Häscher in Band schlagen können, von einem, sagen wir mal, geheimnisvollen Unbekannten wohin auch immer aus der Affäre gezogen wird, wird in der Heidenheimer Version gar nicht erst angezündet.
Mittellagen und Mezzo
Carlo, dieses arme, immer zwischen allen Stühlen hin und her gerissene psychotische Bündel, dem Verdi ja sogar den damals klassischen Tenorstatus verweigert, indem er ihn viel in der Mittellage ansiedelt – was eindeutig nicht Sung Kyu Parks angestammtes Element ist – und kaum in der freien Höhe glänzen lässt – wo sich der Koreaner, in Heidenheim vor Jahren schon einmal ein glänzender Ernani, hörbar wohler fühlt – stirbt ebenso wie Elisabeth, der Leah Gordon, auch für sie gibt’s beinahe notorisch Mittellage, viel sopranistische Größe und Stärke in all dem Unglück verleiht, wenngleich nicht alle pianissimi wunschlos glücklich machen.
Vom Glück hingegen Meilenweit entfernt ist der Königin König, Philipp II., alt, frustriert und Vertrauen nur außerhalb der Familie gewährend, den Pavel Kudinov mit reichem bassbaritonalen Tiefgang rüberbringt. Da weiß man, was man hat. Wobei, sieht man von den einmal mehr in allen Situationen ganz großartigen Brünner Choristen einmal ab, die größte sängerische Vehemenz des Premierenabends sicherlich vom Mezzosopran der Zlata Khershberg ausgeht, bei der die undurchsichtige Eboli, vor allem auch, wenn’s mal quicklebendig wird, bestens aufgehoben ist. Wohingegen Ivan Thirions Posa doch einen längeren Anlauf benötigte, ehe sein Bariton auf Touren kommt.
Sprödigkeit und Seelentrost
Das galt zunächst auch für die Musik aus dem Orchestergraben. Ein akustisches Phänomen, wie sich herausstellen sollte, als die Nachtluft nach der Pause den Klang doch wesentlich besser trug. Zuvor waren da jedoch einige der subtilen Eingebungen Verdis ein wenig im Orchestergraben gewissermaßen sitzengeblieben und nicht alles auch dynamisch so über die Köpfe der Hörer hinaufgeschwebt, wie das sicherlich gedacht war.
Wo die Handlung der Geschichte düster und in Heidenheim am Ende pechschwarz ist, bleibt es Verdis Musik vorbehalten, von Menschlichkeit zu künden, Seelentröster zu sein, vor allem der Tröster der Seelen seiner Handelnden. Und selbst eine Figur wie den Großinquisitor, den Verdi als Mensch verachtet, lässt er musikalisch nicht im Regen stehen, sondern verleiht ihm durch die Verwendung des bei ihm sonst nie zu findenden Kontrafagotts eine Art eigener Größe in all der Garstigkeit.
Wo die Handlung fast ausnahmslos Härte kennt, setzt im Gegensatz dazu Verdi im „Don Carlo“ nicht auf das bis dato oft strapazierte Hum-ta-ta, sondern auf geradezu sinfonische Töne, wobei er in dieser Geschichte selbstverständlich nicht um vorwiegend dunkle und gedeckte Klänge aus der Ecke der tiefen Streicher und Bläser herumkommt, die die Farbe dieser Partitur prägen.
Marcus Bosch und den Stuttgarter Philharmoniker gelingt es vorzüglich, einerseits die realistische herbe Sprödigkeit dieser Partitur nicht künstlich aufhellend zu verwässern, anderseits dennoch den Trostatem dieser Musik Gehör zu verschaffen. So differenziert bekommt man das nicht alle Tage zu hören.
„Don Carlo“: fünf weitere Vorstellungen
Weitere Vorstellungen von „Don Carlo“ am 9., 14., 15., 21. und 28. Juli. Eintrittskarten sind im Vorverkauf im Ticketshop des Pressehauses in Heidenheim erhältlich.