Einer Familiengeschichte auf der Spur

Von Heidenheim nach Bačko Novo Selo: eine Reise in die Vergangenheit

Autorin Silja Kummer reiste in das serbische Dorf, aus dem ihre donauschwäbischen Großeltern stammen, und zeichnet damit das Schicksal ihrer Familie nach, das durch die Flucht und einen Genozid tief geprägt wurde.

Von Heidenheim nach Bačko Novo Selo: eine Reise in die Vergangenheit

Diese Reise hat eine lange Geschichte, und eigentlich war es jetzt schon fast zu spät, sie überhaupt anzutreten. Ich bin 51 Jahre alt, meine Oma wurde 1923 geboren, vor 100 Jahren. Sie ist vor fünf Jahren gestorben. Kurz vor ihrem Tod hat sie zu meiner Tochter gesagt: „Ich hatte so ein schweres Leben, aber ihr habt mich immer glücklich gemacht.“ Mit „ihr“ meinte sie die Familie, die ihr nach dem Krieg geschenkt wurde: eine Tochter, zwei Enkel, zwei Urenkelinnen. Alles, was es davor gab, war verloren – aber es begleitet uns bis heute.

Ich bin im Haus meiner Großeltern in Giengen aufgewachsen und damit auch mit den Erzählungen von „daham“. So hieß im donauschwäbischen Dialekt die alte Heimat, von der ich mir immer gerne erzählen ließ, wenn die Märchenbücher und Geschichten, die meine Oma mir vorlas, langweilig geworden waren. Hattet ihr Pferde? Erzähl, wie du heimlich davongeschlichen bist, um in der Donau zu schwimmen. Wie sah euer Haus aus? Ich hatte schon als Kind eine genaue Vorstellung von diesem fernen Dorf Bačko Novo Selo, das mehr als 1000 Kilometer entfernt liegt vom Landkreis Heidenheim, aber für mich doch sehr nahe war.

1991 stand der Balkan in Flammen

Zum ersten Mal sagte ich kurz vor dem Abitur zu meiner Oma, dass ich mit ihr zusammen dorthin fahren werde. Im März 1991 begann der Krieg zwischen Serbien und Kroatien, im Juni 1991 bestand ich mein Abitur. Im Herbst 1991 stand der Balkan in Flammen und eine Reise dorthin war überhaupt keine Option. Allerdings weiß ich auch nicht, ob meine Oma tatsächlich mit mir gereist wäre. Sie hätte auch andere Gelegenheiten gehabt, die alte Heimat zu besuchen, aber am Ende wollte sie sich dem Grauen, das sie erlebt hatte, wahrscheinlich nicht noch einmal stellen.

Anfang der 2000er-Jahre nahm ich die Idee wieder auf, nach Serbien zu reisen. Ich fragte eine Reederei an, ob sie mich auf einem Donau-Frachtschiff mitnehmen würde – wie die donauschwäbischen Auswanderer im 18. Jahrhundert, die von Ulm den Fluss hinunterreisten und für einen Baron Johann Markus Zuana ödes Land in der Vojvodina urbar machten. Aus diesem Plan wurde wieder nichts, mangels Zeit und Ressourcen dafür.

Nochmal 20 Jahre später änderte ich die Reiseroute ein weiteres Mal: Es sollte nicht der Weg der Urahnen werden, dem ich folge, sondern der Fluchtweg meiner Oma, nur eben in die andere Richtung. Es sollte keine Urlaubsreise werden, sondern eine Reise in die Vergangenheit. Eine Reise ins Herz der Finsternis meiner Familiengeschichte.

Von Graz nach Novi Sad: Wie auf der Flucht, nur rückwärts

Erste Station: Graz. Hier kam sie 1946 einige Zeit bei Verwandten unter, verdiente etwas Geld für eine Bahnfahrkarte und nahm übers Rote Kreuz Kontakt zu ihrer Schwester auf, die bereits im Landkreis Heidenheim angekommen und zusammen mit ihrem Vater in einem Bauernhof in Rotensohl einquartiert worden war. Auf dem Schlossberg in Graz erinnert eine Tafel an die Donauschwaben, die ab 1944 hier Zuflucht und eine neue Heimat fanden.

Google Maps wählt von Graz aus die Autobahn über Zagreb als schnellsten Weg nach Novi Sad. Wie meine Oma vor mehr als 75 Jahren den Weg fand, zu Fuß durch ein vom Zweiten Weltkrieg zerstörtes Europa? Ich weiß es nicht, und leider kann ich sie nicht mehr fragen. Auch mit dem Auto dauert es Stunden, die Pannonische Tiefebene zu durchqueren, heute führt der Weg an der kroatisch-bosnischen Grenze entlang und es gibt nichts zu sehen außer Feldern und öden Dörfern.

Von der Fruška Gora aus blickt man auf die Donauebene rund um Novi Sad.

Vor Novi Sad verlassen wir die Autobahn und fahren direkt hinein in die Fruška Gora, einen bewaldeten Gebirgszug, der heute ein Nationalpark ist. Von einem Aussichtspunkt schaue ich zum ersten Mal hinunter auf die Stadt Novi Sad, die Donau und die Ebene dahinter, in der irgendwo das Dorf liegt, das das eigentliche Ziel der Reise ist. Abends schlendern wir durch die Altstadt von Novi Sad, eine belebte südeuropäische Fußgängerzone mit Cafés und Restaurants und sehr viel Leben, das sich auf der Straße abspielt.

Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, hier durch Straßen zu gehen, durch die auch mein Opa irgendwann gegangen sein könnte. Er hat seine Ausbildung zum Gerber in Novi Sad gemacht und ich hatte gehofft, vielleicht im Stadtmuseum einen Hinweis darauf zu bekommen, in welchen Vierteln einst welche Handwerker angesiedelt waren. Diese Hoffnung wird enttäuscht: Im Stadtmuseum gibt es steinzeitliche Fundstücke und Gemälde von Schlachten gegen osmanische Heere, bei denen die Stadt von der Festung Petrovaradin aus verteidigt wurde.

Ein "ruhmreicher Partisanenkrieg"

Die jüngere Geschichte findet mit keinem Wort Erwähnung, und bei genauerer Betrachtung ist das auch logisch: Bis zum Balkankrieg war Jugoslawien ein kommunistischer Staat, der im Zweiten Weltkrieg einen „ruhmreichen Partisanenkrieg“ gegen die Nationalsozialisten geführt hat, zu denen die donauschwäbischen Siedler pauschal gezählt wurden. Ende der Geschichte.

Am nächsten Tag fahren wir in das Dorf Bački Jarak, zwanzig Autominuten von Novi Sad entfernt. Das ganze Dorf, von seinen donauschwäbischen Bewohnern verlassen, war von 1944 bis 1946 ein Internierungslager, in dem mehr als 15.000 Menschen – vorwiegend Donauschwaben und in erster Linie alte Menschen und Kinder – festgehalten wurden. Rund 7000 davon starben durch Hunger und Krankheiten oder wurden von den Partisanen ermordet. 2017 wurde im Dorf ein Mahnmal dafür errichtet. „Serbien bricht das Tabu um das Schicksal der Donauschwaben“ titelte die deutsche Zeitung „Die Welt“ damals. Jahrelang sei das Thema totgeschwiegen worden, als Geste der Aussöhnung kam der serbische Regierungschef Alexsandar Vučić und legte einen Kranz nieder.

Im serbischen Ort Backi Jarak wurden im Zweiten Weltkrieg donauschwäbische Bewohner interniert. Rund 7000 Menschen starben an Hunger, Krankheiten oder wurden ermordet. Seit 2017 erinnert ein Gedenkstein an die Verstorbenen. Jens Eber

Wo sich die Gedenkstätte befindet, verraten allerdings weder der Artikel der „Welt“ noch Wikipedia, Google Maps oder irgendein Straßenschild in Bački Jarak. Wir fahren kreuz und quer durchs Dorf, auf den veröffentlichten Fotos ist nur zu erkennen, dass der Gedenkstein am Ortsrand steht. Schließlich frage ich eine junge Frau, die ihren Kinderwagen durch eine Wohnstraße schiebt. Ich zeige ihr das Foto und sie nickt: rechts, links, wieder rechts. An einer Straße, die aus dem Ort führt, gegenüber einer Fabrik und neben dem Friedhof finden wir den Stein auf einer gepflasterten Fläche, daneben liegen schwarze Müllsäcke. Krähen fliegen auf und verursachen mir eine Gänsehaut mit ihren heiseren Schreien.

„Diese Gedenkstätte bewahrt die Erinnerung an unsere donauschwäbischen Mitbürger, die im Internierungslager Bački Jarak ums Leben gekommen sind und hier ihre letzte Ruhe fanden.“ So kann man es auch umschreiben, wenn man Tote in Massengräbern verscharrt. Irgendwo hier ist also auch die letzte Ruhestätte der Mitglieder meiner Familie, die hier ums Leben kamen, und deren Namen auf keinem Grabstein stehen: mein Onkel Johann (5), meine Tante Maria (3), meine Urgroßmutter Gertrauda (45), mein Ururgroßeltern Ottilie (75), Anton (81) und Katharina (79).

Innerhalb der Familie war das Lager durchaus ein Thema, es kam schon vor, dass meine Oma auch bei Familiengeburtstagen irgendwann von der Zwangsarbeit erzählte, bei der verwundete Partisanen im Lazarett auf die deutschen Frauen spuckten, die den Fußboden schrubben mussten. Oder dass darüber gesprochen wurde, wie die Toten im Lager auf Pferdewagen geworfen und weggefahren wurden. Ich habe das nie als außergewöhnlich empfunden, gleichwohl aber als schmerz- und schambehaftet und kein Thema, das draußen jemand verstanden hätte.

Und noch viel weniger als ich in der zweiten Generation danach hätte meine Oma, die als einzige in der Familie die Internierung überlebt hat, jemals einem Fremden davon erzählt. Ich möchte sie im Nachhinein noch in Schutz nehmen und all denjenigen, die sie als seltsam, verschlossen und misstrauisch erlebt haben, erklären, was ihr widerfahren ist und warum es ihr zeitlebens schwerfiel, jemandem zu vertrauen.

Als wir am nächsten Tag die einstündige Autofahrt von Novi Sad nach Bačko Novo Selo antreten, habe ich während der Fahrt das Gefühl, gar nicht ankommen zu wollen. Es ist eine Mischung aus Vorfreude darauf, endlich das Dorf zu sehen, und Angst davor, komplett enttäuscht zu werden. Die Gegend wird immer ländlicher und ruhiger, es begegnen uns schließlich nur noch wenige Fahrzeuge. Eine lange Gerade und dann das Ortsschild, der Ortsname in kyrillischer Schrift. Wir fahren ins Dorf und direkt auf die Kirche zu. Ich habe Bilder aus den 1980er-Jahren gesehen, in denen das Dach Löcher hatte und das Gebäude kurz vor dem Verfall stand. Dieser wurde mittlerweile aufgehalten, das Dach wurde neu gedeckt und die Kirche hat neue hölzerne Eingangstüren. Diese sind allerdings alle verschlossen. Vermutlich gibt es nicht viel zu sehen in der katholischen St. Anna-Kirche, die im orthodoxen Serbien nicht mehr genutzt wird. Aber ich hätte gerne den Raum betreten, in dem meine Großeltern 1940 geheiratet haben.

Fleißarbeit der Heimatsortsgemeinschaft Bačko Novo Selo

Das nächste historische Gebäude steht direkt neben der Kirche: die ehemalige Schule. Hier sind die Fensterscheiben zerbrochen, die Zwischendecke im zweistöckigen Gebäude ist eingestürzt. Aber die große hölzerne Eingangstür mit Schnitzereien ist noch intakt. Mit einem Ortsplan, den die Heimatsortsgemeinschaft Bačko Novo Selo aus Steinheim rekonstruiert hat, und in dem die Häuser und ihre Bewohner vor 1945 verzeichnet sind, ziehen wir durch die Straßen. Verblüffend ist, dass sich der Ort seither nicht vergrößert hat, es gibt keine Neubaugebiete, dafür jede Menge verfallene Häuser. 1200 Einwohner hat der Ort heute, vor 1945 waren es 2300.

Meine Großeltern sind zwei Straßen voneinander entfernt aufgewachsen und haben nach der Hochzeit im Elternhaus meiner Oma gewohnt und die kleine Landwirtschaft dort übernommen. Ich bin sehr aufgeregt, als wir in der Straße stehen, in der die meisten Häuser vermutlich mehr als 100 Jahre alt und nur zum Teil modernisiert sind. Im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, ob ich den Plan richtig herum gehalten habe und tatsächlich vor dem Haus meiner Familie stand, oder ob es die falsche Straßenseite war. Da aber alle Häuser nach einem ganz ähnlichen Plan gebaut wurden, habe ich trotzdem einen Eindruck davon, wie die Menschen damals gelebt haben.

Das Haus der Oma? Die Autorin war im serbischen Heimatdorf ihrer Großeltern mit einem Plan von vor 1945 unterwegs und konnte nicht alles genau zuordnen. Silja Kummer

Die Mittagshitze ist erdrückend, als wir den Friedhof betreten. Es gibt einen neuen Teil östlich des Hauptwegs, in dem die meisten Grabsteine kyrillisch beschriftet sind. Auf der anderen Seite ist die Erde schwarz vom verbrannten Unkraut, das auf den Wegen und über den Gräbern liegt. Ich wate in Sandalen durch die Asche, bin aber trotzdem froh, dass hier so rüde gejätet wurde, sonst wäre vermutlich gar kein Durchkommen gewesen. Um diesen Teil des Friedhofs kümmert sich niemand, aber wer sollte es auch tun: Die damaligen Bewohner sind seit 78 Jahren nicht mehr im Dorf, viele Gräber sind noch viel älter, datieren vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Die meisten Familiennamen, die hier zu lesen sind, kenne ich: Rimpf, Schmidt, Steigmayer, Aschberger – das ganze Dorf war miteinander verwandt und bekannt, sehr viele der Bewohner sind im Landkreis Heidenheim gelandet. Zu gerne würde ich eines der umgefallenen Steinkreuze mitnehmen und ihm zu Hause einen würdevollen Platz geben. Ich werde davon abgehalten und das ist natürlich richtig so, man entwendet keine Grabsteine aus nostalgischen Gründen.

Meine Oma konnte nichts mitnehmen aus ihrer alten Heimat, die wenigen Erinnerungsstücke, die wir besitzen, hatte ihre Schwester dabei, die rechtzeitig mit einem Flüchtlingstreck das Dorf verlassen hatte und über Ungarn und Schlesien nach Deutschland kam. Ich versuche also auch zu gehen, ohne etwas mitzunehmen. Aber das stimmt so natürlich nicht: Ich nehme das Gefühl mit, endlich an einem Ort gewesen zu sein, der mich schon mein Leben lang beschäftigt. Das Gefühl, meine Wurzeln besser zu kennen. Das Gefühl, ein schönes Land besucht zu haben. Und ja, ich habe am Ende doch ein paar Steine im Gepäck: einen versprengten behauenen Stein vom Friedhof und einige Donaukiesel vom Flussufer.

Grausamkeiten auf beiden Seiten

Das seit 1929 bestehende Königreich Jugoslawien wurde zwischen 1941 und 1942 von deutschen und italienischen Truppen erobert, Serbien von Deutschland besetzt und unter militärische Verwaltung gestellt. Alle wehrpflichtigen deutschen Männer der Vojvodina vom 17. bis zum 50. Lebensjahr wurden 1942 unter Androhung „strengster Strafen“ eingezogen, sofern sie nicht in der Landwirtschaft unabkömmlich waren. Viele von ihnen wurden Teil der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgs-Division Prinz Eugen und verübten im Partisanenkrieg furchtbare Kriegsverbrechen an der jugoslawischen Bevölkerung. Dafür rächten sich die Partisanen unter Führung von Josip Broz Tito später an der gesamten verbliebenen donauschwäbischen Zivilbevölkerung, die unter den Generalverdacht der Kollaboration mit den Nationalsozialisten gestellt wurden.

Mit dem Vormarsch der Roten Armee in Rumänien und Serbien begann im Herbst 1944 die Flucht der Donauschwaben. Mit einem Erlass des Antifaschistischen Rats der Nationalen Befreiung Jugoslawiens (AVNOJ-Erlass) vom 21. November 1944 wurden alle Deutschen enteignet und ihr Vermögen konfisziert. Kurz darauf begann die Internierung der verbliebenen donauschwäbischen Bevölkerung, wobei jüngere Menschen in Arbeitslager, Kinder und ältere Bewohner in Vernichtungslager geschafft wurden. Ende Dezember 1944 deportierten die Tito-Partisanen 27.000 bis 30.000 Donauschwaben aus dem Banat, der Batschka und der Branau in russische Arbeitslager, wo viele ums Leben kamen.