Stadtrundgang

Von Schmiergeld und kleinen Schandtaten: Unterwegs mit dem Heidenheimer Nachtwächter

Schmiergeldzahlungen in Heidenheim? In der Hinteren Gasse in Heidenheim war das vor ein paar hundert Jahren gang und gäbe. Wer so etwas behauptet? Heidenheims Nachtwächter alias Armin Dömel, der selbst Einheimischen auf dem Rundgang so manche neue Anekdote erzählt.

Der Glockenschlag der Pauluskirche hallt über die Stadt. Im nächtlichen Heidenheim herrscht weitgehend Ruhe. Am Knöpfleswäscherinnenbrunnen vor dem Elmar-Doch-Haus hat sich eine kleine Gruppe versammelt. Im Mittelpunkt steht ein Mann, dessen Outfit direkt aus dem Mittelalter zu stammen scheint. Armin Dömel ist für eine Stadtführung in die Rolle des Nachtwächters geschlüpft und nimmt die Gruppe mit auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. „Seid mir gegrüßt“, sagt er mit tiefem Bass, und die Gruppe verstummt.

„So hört, ihr Leut’, ich tu euch kund, was geschlagen hat die Stund’.“ Mit diesem traditionellen Ruf beginnt der Rundgang und damit eine Zeitreise, die selbst für Einheimische so manche unterhaltsame Überraschung bereithält. So zum Beispiel die Anekdote der Knöpfleswäscherin, von der es laut Dömel mehrere Varianten gibt. Seine spielt zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, als französische Soldaten in der Stadt hausten. Eine Rolle spielt dabei der Stadtbach, in dem damals der Inhalt des Nachtopfes genauso landete wie anderer Schmutz. Als die Franzosen die Knöpfle verschmähten und auf den Boden warfen, wusch die sparsame Heidenheimerin die Knödel im stinkenden Bach, schnitt sie in Scheiben und briet sie an. „Den Franzosen soll es sehr gemundet haben.“

Heidenheims berühmte Sagenfigur, die Knöpfleswäscherin. Foto: Rudi Penk

Es ist nicht der letzte Lacher, den Dömel erntet. Gerade die kleinen Geschichten am Rande machen den eineinhalbstündigen Spaziergang so kurzweilig. Dass das Elmar-Doch-Haus früher das Heidenheimer Rathaus war, wissen alle in der Gruppe. Doch Heidenheims erstes Rathaus befand sich gegenüber: „Ungefähr da, wo heute ein Hexenmeister namens Kirsamer sein Unwesen treibt“, wispert der Nachtwächter seinem Gefolge zu – eine Brille wäre den Menschen im Mittelalter sicherlich wie Hexerei vorgekommen.

Mit Hellebarde und Laterne: Armin Dömel im Mittelalter-Outfit

Über das Leinenhemd hat Dömel einen dunklen, schweren Umhang geworfen. In einer Hand hält er eine Hellebarde, am Gürtel baumelt ein Horn, und im Leder steckt eine Axt. Der Kerzenschein aus der Laterne wirft flackerndes Licht in das bärtige Gesicht, das im Schatten der Hutkrempe liegt. Der Hut soll Dömel später noch gute Dienste erweisen. Denn im Laufe des Abends wird es ungemütlich nass. Und Regenschirme gab es bekanntermaßen im Mittelalter ebenso wenig wie Brillen.

Der Nachtwächter war früher nicht so beliebt wie heute als Stadtführer. „Niedriger im Stand waren nur noch der Henker und der Scharfrichter“, seufzt Dömel. Dabei war es der Nachtwächter, der die Stadt vor so manchem Unheil bewahrte. Seine Hellebarde diente nicht nur zur Verteidigung, sondern auch dazu, das Stroh von den Dächern zu ziehen, sollte es Feuer gefangen haben. Ins Horn stieß der Nachtwächter nicht nur zur vollen Stunde, sondern auch, um die Menschen zu warnen. Deshalb, so Dömel, konnte niemand Nachtwächter werden, der „von Tuten und Blasen keine Ahnung“ hatte.

Darum hat Heidenheim keine Stadtmauer mehr

Die nächste Anekdote erzählt Dömel am Türmle in der Grabenstraße. Der heutige Sitz des Kunstvereins ist der letzte von einst sechs Wachtürmen und vier Tortürmen. Viereinhalb Meter tief war der Stadtgraben. Wie tief das ist, kann man erahnen, wenn man einen Stein in das Loch vor dem Türmle wirft. Dass Heidenheim keine Stadtmauer mehr hat? „Die Bürger haben sie selbst abgerissen“, erzählt Dömel. Man brauchte den Stein für andere Gebäude. Heute kennzeichnen weiße Pflastersteine in den Seitengassen und auf der Fußgängerzone, wo einst die Stadtmauer verlief. Über ihre Bedeutung hatten sich die Teilnehmerinnen noch nie Gedanken gemacht. Künftig werden sie die Stadt nicht nur an dieser Stelle mit anderen Augen betrachten.

Pfluggasse Heidenheim: Der Nachtwächter steht auf den hellen Pflastersteinen, die den einstigen Verlauf der Stadtmauer markieren. Foto: Rudi Penk

Während die Gruppe über die Anekdoten nachdenkt, bleibt Dömel vor dem Fachwerkgebäude am Eingang der Hinteren Gasse stehen, wo sich heute Humus und Co. befindet. Im Mittelalter war hier eine Herberge, und auch die Stadtschreiber wohnten hier, vielleicht sogar Nachtwächter. Hier kommt das Schmiergeld ins Spiel, das damals keine anrüchige Bedeutung hatte. „Die Kutscher ließen sich das Schmieren der Naben bezahlen.“

Zum Geburtshaus von Johann Matthäus Voith in Heidenheims Altstadt

Treppauf geht’s weiter zum Gässlein an der Stadtmauer, das nur zu Fuß erreichbar ist. Vorbei an den Oberamtsgärten der Kirche führt der Weg zu den Resten des Schandturms, wo Menschen wegen leichterer Vergehen eingesperrt wurden. Dinge, über die heute niemand mehr die Schultern zucken würde, wurden damals streng bestraft. Sonntags die Wäsche zu waschen war ebenso verboten wie das Annähen von Knöpfen oder Stopfen von Taschen in der Jacke. Damit sollten die Schneider geschützt werden, die mit ihrem Handwerk eine Familie zu ernähren hatten.

Heidenheims schöne Rückseite: Der Nachtwächter führt durch die alten Gassen am Fuße des Schlossbergs. Foto: Rudi Penk

Der Nachtwächter hält die Gruppe vor einem unscheinbaren alten Gebäude an. „Hier“, erklärt er, „wurde 1803 Johann Matthäus Voith geboren.“ Wie es weiterging, wissen die meisten Heidenheimer: J. M. Voith übernahm die väterliche Schlosserei und legte den Grundstein für die heutige Weltfirma. Der Vater hatte die Werkstatt vorausschauend von der Hinteren Gasse an die Brenz zur Schleifmühle verlegt. An solchen Stationen wird deutlich, wie stark Heidenheims Geschichte mit seiner Entwicklung zu einem Industrie- und Innovationsstandort verbunden ist.

Im Haus „An der Stadtmauer 6“ wurde am 29. April 1803 Johann Matthäus Voith geboren. Foto: Rudi Penk

Magische Momente in der Dunkelheit Heidenheims

Der Reiz des Rundgangs liegt nicht nur in den Geschichten, sondern auch in der nächtlichen Atmosphäre. Das warme Licht der Laternen, das Klackern der Schritte auf dem Pflaster und die Stille der schmalen Gassen schaffen eine fast mystische Stimmung. Der Nachtwächter nutzt diese Atmosphäre geschickt, um die Teilnehmer für die Geschichte der Stadt zu sensibilisieren. Immer wieder fordert er sie auf, innezuhalten und hinzuschauen – zum Beispiel auf die Sonnenuhr über dem Eingangsportal der Michaelskirche. Diese stammt vom ehemaligen Oberen Stadttor. Die Glocke der Michaelskirche tut schon seit 1582 ihre Dienste. Damals war Heidenheim übrigens weitgehend evangelisch.

Aufstieg zum Heidenheimer Schloss: Es schüttet, doch der Nachtwächter kommt ohne Regenschirm aus. Foto: Rudi Penk

Auf dem Weg hinauf zum Schloss schüttet es wie aus Kübeln. Die Gruppe hangelt sich von Baum zu Baum, um nicht klatschnass zu werden. Zu Füßen liegt die nächtlich beleuchtete Stadt, oben wird das Heidenheimer Wahrzeichen angestrahlt. „So sah das früher nicht aus. Ab und zu gab es vielleicht eine Fackel, aber ansonsten wäre es jetzt stockdunkel gewesen“, sagt Dömel.

Mystische Momente: Der Mond versteckt sich hinter den Wolken, während Armin Dömel am Heidenheimer Kindlesbrunnen erzählt, dass die Heidenheimer noch nie an den Klapperstorch geglaubt haben. Foto: Rudi Penk

Im Schlosshof erzählt er die Geschichte von Schloss und Burg, es fallen Namen wie Degenhard von Hellenstein, ein Gefolgsmann von Barbarossa, und Herzog Friedrich I., die jeder Heidenheimer mit dem Schloss in Verbindung bringt. Die ursprüngliche Stauferburg wurde zwischen 1130 und 1145 erbaut, jedoch bei einem Brand im Jahre 1530 fast völlig zerstört. Nur noch die Ruinen des sogenannten Rittersaals sind davon übrig geblieben. Schwarz heben sich die Mauern vor dem Nachthimmel ab, innerhalb derer heute die Opernfestspiele aufgeführt werden.

Reste der einstigen Heidenheimer Burg: Die Mauern des Rittersaals heben sich gegen den Nachthimmel ab. Foto: Rudi Penk

Nach gut anderthalb Stunden endet der Rundgang im Schlosshof. Die Teilnehmer sind beeindruckt – selbst diejenigen, die glaubten, ihre Stadt bereits gut zu kennen. Die Geschichten wirken nach, und Dömel setzt zum letzten Vers seines Nachtwächtergesangs an:

„Menschen wachen kann nichts nützen,
Gott muss wachen, Gott muss schützen.
Herr, durch deine Güt’ und Macht
schenk uns eine gute Nacht.“

Die nächsten Nachtwächter-Führungen in Heidenheim

2024 findet noch eine Nachtwächter-Führung statt am 13. Dezember. Für 2025 sind bislang folgende Führungen geplant: 31. Januar, 19 Uhr, 28. Februar, 19 Uhr, 28. März, 20 Uhr und 25. April, 20 Uhr.

Infos und Tickets https://www.tourismus-heidenheim.de/gaestefuehrungen/oeffentliche-fuehrungen

Die Nachtwächter-Führungen können für Gruppen auch zum Wunschtermin gebucht werden, Anfragen bei der Stadt-Information unter Telefon: 07321.327-4915.

Es gibt drei Varianten: eine Stunde in der Stadt, eine Stunde rund ums Schloss oder eineinhalb Stunden kombiniert Stadt und Schloss.

Als Extras können ein Schnäpsle und Fackeln zur Führung gebucht werden, Fackeln können nur bei der kombinierten Führung oder bei der Führung rund um Schloss Hellenstein zum Einsatz kommen.
Derzeit sind zwei Nachtwächter im Einsatz: Manfred Lohmüller und Armin Dömel.

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