Ob er sich für Oper interessiert hat? Aber stellen wir uns einfach mal vor, Sofonias Theuß habe in irgendeiner Zeitung über die Uraufführung von Puccinis „Madama Butterfly“ am 17. Februar 1904 an der Mailänder Scala gelesen. Und er hätte sagen können: „Schau an, da war ich doch unlängst auch erst.“ Nagasaki.
Dort spielt die Oper, deren Neuinszenierung nächste Woche Premiere bei den Heidenheimer Opernfestspielen haben wird. Und Sofonias Theuß wiederum war ganz sicher einer der ersten Steinheimer, Heidenheimer, Ostälbler, die Nagasaki gesehen haben. Seine Ankunft dort an Bord des Schiffes „Gera“ am 21. Juni 1901, also fast auf den Tag vor 123 Jahren, schildert er in seinem Tagebuch so: „Nachdem sich der schwadendichte Nebel gelegt hatte, wurde an Steuerbord wie an Backbord ein weißer Leuchtturm sichtbar sowie eine umfangreiche Inselgruppe, die dem japanischen Inselreiche, der südwestlichen Küste, vorgelagert war. Hinter dieser Inselgruppe, versteckt in einer romantischen Bucht, umsäumt von einer bewaldeten Bergkette, da lag verborgen wie eine kleine, zauberhafte Märchenfee die japanische Stadt Nagasaki.“
Die Pfarrstraße
Sofonias Theuß nutzte seine Zeit in Nagasaki unter anderem dazu, auf einen der Hügel oberhalb der Stadt zu steigen, wo ja übrigens auch die Geschichte der Madama Butterfly angesiedelt ist, um von dort auf den Hafen herabzublicken und bei der Gelegenheit ein beeindruckendes Foto zu schießen. Opernromantiker haben mit dieser Aufnahme gleichsam das Panorama vor Augen, das sich Chio-Chio-San und Pinkerton aus ihrem Liebesnest bietet.
Nagasaki war eine Station auf dem Retourweg einer für die damalige Zeit kapitalen Reise, die Sofonias Theuß nach seiner Rückkehr in der Heimat einen neuen Namen einbrachte. Fortan war er für alle hier nur noch der China-Theuß. Er hätte aber genauso gut der Afrika-Theuß sein können. Denn unter anderem auch diesen Teil der Welt hat er zu einer Zeit gesehen, als dies für den allergrößten Teil der hiesigen Menschheit völlig unvorstellbar war. Das Folgende ist insofern nur ein kleiner Teil der Lebensgeschichte eines Mannes, der am 4. April 1875 als Bauernsohn in der Pfarrstraße zu Steinheim das Licht der Welt erblickte.
Auch der China-Teuß hätte es sich als Volksschüler in Steinheim, als Arbeiter in der Württembergischen Cattunmanufaktur in Heidenheim und auch noch als Rekrut der Gelben Dragoner in Stuttgart mit Sicherheit nie träumen lassen, dass er bald schon mehr von der Welt sehen würde, als nahezu alle seine Zeitgenossen im Kreis Heidenheim zusammen.
Der Boxeraufstand
Der erste entscheidende Einschnitt im Leben des Sofonias Theuß ereignete sich nach Beendigung seiner Militärzeit, als ihn sein früherer Hauptmann, Baron Freiherr Max von Gemmingen-Guttenberg, 1898 als Zivildiener anstellte. Denn Gemmingen wurde zwei Jahre später samt Theuß zum Generalstab des Armee-Oberkommandos für Ostasien versetzt, was bedeutete, dass Theuß in der Folge des sogenannten Boxeraufstandes in China dorthin zu reisen hatte.
Der Boxeraufstand war, vereinfacht formuliert, der Aufstand eines chinesischen Geheimbundes, der sich gegen die immer stärkere Einmischung der europäischen Großmächte und die zunehmende christliche Missionierung Chinas richtete. Die Ermordung des höchst provokant auftretenden deutschen Gesandten Clemens von Ketteler am 20. Juni 1900 in Peking zog auf Initiative des deutschen Kaisers Wilhelm II. ein verstärktes militärisches Eingreifen der Kolonialmächte nach sich, die, darunter 20.000 Deutsche, rund 80.000 Soldaten gen China in Marsch setzten.
Der Weg nach China
Am 27. Juli verabschiedete Wilhelm II. das erste deutsche Truppenkontingent mit seiner berüchtigten „Hunnenrede“, die in dem Satz gipfelte: „Daß niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ Noch ehe allerdings das internationale Expeditionskorps, dem auch Briten, Amerikaner, Russen, Franzosen, Japaner, Italiener und Österreicher angehörten, in Peking eintraf, hatte eine Not-Truppe aus im pazifischen Raum stationierten Soldaten der Alliierten bereits das von den Aufständischen belagerte Botschaftsviertel in Peking entsetzt und dort für Ruhe gesorgt. So beschäftigte sich das Expeditionskorps mit Strafexpeditionen im Umland und mit Plünderungen, ehe ein Friedensschluss im Herbst 1901 die Affäre beendete.
Sofonias Theuß betrat nach einer einmonatigen Schiffsreise, die ihn von Bremerhaven durch den Suezkanal und über Ceylon geführt hatte, am 16. Oktober 1900 an der Mündung des Pei-ho chinesischen Boden und kam am 3. November in Peking an.
Im Kaiserpalast
Dort bezog Theuß als Diener eines Hauptmanns im Generalstab standesgemäß Quartier im von den Alliierten okkupierten Kaiserpalast. Was der Steinheimer in China erlebte, hat er in seinem Tagebuch festgehalten. Und hierin berichtet Theuß von Ausflügen ins geheimnisvolle Peking ebenso wie von einer Expedition, die ihn am Silvestertag des Jahres 1900 tatsächlich auch zur Chinesischen Mauer und durch sie hindurch führte. Und Theuß war dabei, als der Kaiserpalast brannte und schildert anschaulich, wer von den Offizieren mit wesentlich mehr Gepäck, als er mitgebracht hatte, China verließ. Am 15. Juni 1901 zog auch Theuß wieder aus dem Kaiserpalast aus und erreichte per Schiff, diesmal über Japan, Java und Ostafrika, am 7. August Hamburg.
Nach der Rückkehr nahm Theuß seinen Dienst in Stuttgart wieder auf. 1904, in dem Jahr, als Puccinis „Butterfly“ herauskam, schloss er sich der sogenannten Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika an, von wo er 1906 wieder zurückkehrte und krankheitshalber aus dem Militärdienst entlassen wurde. Im Ersten Weltkrieg war Sofonias Theuß als Führer in einer Sanitätshundekompanie vor Verdun eingesetzt, wo er mit erschütternden Erlebnissen konfrontiert wurde, die aus dem einst kaisertreuen Soldaten einen entschiedenen Pazifisten machten.
Rüffel für Hitler
Wieder in Steinheim, zog er 1919 als Mieter in die Obere Ziegelhütte, die er 1923 erwarb und wo er fortan als Einsiedler lebte, der sich weitgehend selber versorgte. Wenn nötig, schickte er zum Einkaufen seine Schäferhündin Flora ins Dorf, die mit einem Korb im Maul, in dem sich Einkaufszettel und Geldbeutel befanden, von Geschäft zu Geschäft lief.
Obwohl Sofonias Theuß sehr zurückgezogen lebte, empfing er doch oft Besucher und nahm in seinen Briefen als Zeitkritiker kein Blatt vor den Mund. Nachdem Hitler im November 1928 in einem Vortrag die Pazifisten geschmäht hatte, schrieb Theuß in einem „An den Wanderredner Adolf Hitler“ adressierten Brief: „… nicht feige sind wir Pazifisten, sondern aufrichtig und wahrheitsliebend und zudem wohlmeinende Berater fürs zukünftige Welt- und Völkerwohl. Merken Sie sich das für Ihre fernere Zukunft.“
Sofonias Theuß, der sich als „Anhänger Buddhas“ bezeichnete, äußerte auch während der Naziherrschaft unerschrocken seine Meinung, weshalb er im August 1943 von der Gestapo abgeholt und im Mai 1944 vom Oberlandesgericht Stuttgart wegen Wehrkraftzersetzung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Als sich die Rote Armee der Hauptstadt und damit auch dem Strafgefängnis in Berlin-Plötzensee näherte, wurden die gesunden Gefangenen westwärts transportiert, während die Kranken zurückblieben. Am 26. März 1945 wurde Sofonias Theuß hingerichtet.
Tagebücher, Briefe und ein Buch
Tagebücher, Briefe, Fotografien und sonstigen Lebenserinnerungen bilden die Grundlage für das Sofonias Theuß’ komplettes Leben behandelnde Buch „Der Einsiedler von Steinheim“ von Adalbert Feiler, das 1986 im Verlag der Heidenheimer Zeitung erschien und inzwischen vergriffen ist.