Blutige Auseinandersetzung in der Wilhelmstraße

Warum das Heidenheimer Schöffengericht einen Messerstich überraschend ungeahndet ließ

Im März war bei einem Streit an der Heidenheimer Wilhelmstraße ein Mann durch einen Messerstich schwer verletzt worden. Die Gerichtsverhandlung endete jetzt mit einem überraschenden Urteil.

Warum das Heidenheimer Schöffengericht einen Messerstich überraschend ungeahndet ließ

Amphetamin, Alkohol, Aggressionen – eine oftmals gefährliche Mischung, die auch bei einer blutigen Auseinandersetzung im März an der Heidenheimer Wilhelmstraße im Spiel war. Zunächst schien die Rollenverteilung der Beteiligten klar. Die Verhandlung vor dem Schöffengericht endete jetzt jedoch überraschenderweise mit einem Freispruch für den wegen gefährlicher Körperverletzung Angeklagten.

Anfangs bot sich eine scheinbar eindeutige Sachlage: Am Nachmittag des 21. März attackierte der 27 Jahre alte A. in deren Wohnung seine 37-jährige Lebensgefährtin M. sowie ihren Bruder U. mit einem Messer. Das Leben des 38-Jährigen konnte nach einem Stich in den Schulterbereich nur durch eine Notoperation gerettet werden.

Schnittverletzungen an den Händen

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft beschrieb folgenden Ablauf: A. stritt sich mit seiner Partnerin, woraufhin ihr Bruder eingreifen wollte. Zunächst führte A. mit einem 15 Zentimeter langen Messer Stichbewegungen in Richtung Oberkörper seines Gegenübers aus, der bei Abwehrversuchen Schnittverletzungen an den Händen erlitt. Nachdem die beiden Männer im Gerangel zu Boden gegangen waren, stach A. dem U. in den Nacken. Anschließend drohte er M.: „Jetzt kommst du dran“, und verletzte sie an einer Hand.

Im Laufe des Prozesses verlor der vermeintlich gesicherte Kenntnisstand schnell seine Konturen. So beschrieb der seit Ende März in Untersuchungshaft sitzende, mit Fuß- und Handschließen in den Gerichtssaal geführte A. einen völlig anderen Ablauf. Demzufolge verbrachte er bei gemeinsamem Konsum von Alkohol und Amphetamin eine Nacht mit dem Geschwisterpaar. Später schlief er in einem Sessel ein, ehe er wegen eines Streits der beiden erwachte. Um ein friedliches Miteinander bemüht, wollte er zwei Messer, die er mitgebracht hatte, um zu kochen, im Schlafzimmer unterm Bett verstecken, „damit nichts passiert“.

Angeklagter wählte den Notruf

Auf dem Weg dorthin schlug ihn U. von hinten nieder. „Er ist wie ein Habicht auf mich drauf“, so A. Die beiden stürzten, und U. griff in das Messer, das er dann zur Brust seines auf dem Rücken liegenden Kontrahenten drehte. Dieser versuchte sich in Todesangst dem Zugriff des schräg über ihm Liegenden zu entwinden und versetzte ihm mit einer ruckartigen Bewegung einen gezielten Stich in die Schulter: „Ich wollte ihn kampfunfähig machen und weiß nicht, ob ich sonst heute hier sitzen würde.“ Anschließend holte A. zwei Handtücher, die M. auf die Wunde ihres Bruders drückte. A. selbst wählte den Notruf.

Was nun vor Gericht folgte, war ein Mix aus Gedächtnislücken, Unwahrheiten und Diskrepanzen, die Verteidiger Timo Fuchs angesichts widersprüchlicher Aussagen direkt nach der Tat, im Zuge der polizeilichen Ermittlungen und während des Prozesses akribisch auflistete.

Saß, stand oder lag der Verletzte?

U. gab folgende Fassung zum Besten: Er wurde plötzlich von A. mit einem Messer angegriffen, woraufhin er hinfiel und am Boden sitzend von dem vor ihm Stehenden an der Schulter verletzt wurde. Oder war es so, wie ebenfalls von ihm zu Protokoll gegeben, dass sich die beiden bei der Attacke gegenüberstanden? Oder saß er vielmehr am Küchentisch?

M. hatte der Polizei gegenüber anfänglich behauptet, A. habe ihrem Bruder, der zur Toilette gehen wollte, das plötzlich aus einer Schublade gegriffene Messer in den Rücken gerammt. Jetzt mochte sie sich nicht mehr daran erinnern, einen Stich gesehen zu haben. Auch manch weitere Antwort blieb im Ungefähren stecken: „Viel ist bei mir weg, weil ich einen Schock bekommen habe.“

Rechtsmediziner Prof. Kunz sorgt für Aufklärung

Welche der Geschichten kam nun der Wahrheit am nächsten? Pflichtverteidigerin Judith Kübler hatte bei der siebten Tatversion aufgehört, mitzuzählen. Und so blickten die Anwesenden auf Prof. Dr. Sebastian Kunz, den Leiter des Instituts für Rechtsmedizin in Ulm. Ihm zufolge war das Messer im Bereich der Schulter acht Zentimeter tief eingedrungen und hatte eine Arterie verletzt. Lebensrettende Sofortmaßnahmen wie eine Wiederbelebung waren nicht erforderlich. Allerdings hätte man „ohne ärztliche Intervention angesichts des starken Blutverlusts durchaus mit dem Ableben rechnen müssen“, so Kunz.

Der eine T-Form aufweisende Stichkanal deute darauf hin, dass eine extreme Drehbewegung des Messers erfolgt sei. Deshalb sei „die Variante mit den beiden etwas seitlich versetzt am Boden liegenden Personen, von denen sich eine dynamisch wegdreht, die wahrscheinlichste“. Am unwahrscheinlichsten hingegen diejenige mit zwei sich gegenüberstehenden Menschen.

Staatsanwältin Vogt fordert Freispruch

Bedeutet: Die Tat ließ sich nicht der Anklage entsprechend nachweisen, weshalb Staatsanwältin Tamara Vogt folgerichtig einen Freispruch forderte. Seitens der Verteidigung schlossen sich Timo Fuchs, der eine Entschädigung seines Mandanten für die Untersuchungshaft beantragte, und Judith Kübler dieser Einschätzung an, die wenig überraschend auch das Schöffengericht teilte.

Für Amtsgerichtsdirektor Rainer Feil ruht der Freispruch auf drei Säulen. Zum einen habe sich A. in der Hauptverhandlung sehr authentisch geäußert. Zum anderen zeichneten sich die Angaben der Zeugen durch "unterschiedlichste Versionen und Widersprüche ohne roten Faden" aus. Und zudem decke sich die Einschätzung des Rechtsmediziners mit der Schilderung von A. „Und wenn diese Version die richtige war, dann haben Sie in Notwehr gehandelt, und deshalb bleibt der Stich ungesühnt“, so Feil.

Amtsgerichtsdirektor Feil entschuldigt sich beim Angeklagten

„Ihnen ist durch die Untersuchungshaft Unrecht widerfahren. Dafür müssen Sie entschädigt werden, und ich entschuldige mich für die Justiz bei Ihnen“, sagte Feil abschließend an A. gewandt. Er sehe allerdings nicht, dass im Verlauf des Verfahrens Fehler gemacht worden seien. Nach Aktenlage habe Vieles zunächst anders ausgesehen, weshalb anfangs sogar wegen versuchten Totschlags ermittelt worden sei.

Wann liegt Notwehr vor?

Laut Paragraf 32 des Strafgesetzbuchs handelt nicht rechtswidrig, wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist. Zu verstehen ist darunter die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Die Initialen der Tatbeteiligten wurden in diesem Artikel verändert.

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