Wie dünnflüssig darf Käsefondue sein? Sollte man in seinem Wohnzimmer ein Bild von Wilhelm Tell aufhängen? Macht sich die Schweizer Flagge im Vorgarten gut? Fragen über Fragen. Die Antwort: Nicht jeder taugt zum Schweizer. Wär’s anders, dann bräuchten sich die am Bürgerrecht der Eidgenossen Interessierten nicht von einer eigens dafür eingerichteten Kommission durchleuchten lassen.
Wer’s nicht glaubt, dem sei der schon 1978 erschienene Streifen „Die Schweizermacher“ empfohlen. Und natürlich ein Gespräch mit Raimond Gatter. Der hat die Prozedur nämlich zwei Jahrzehnte später durchlaufen und weiß aus eigener Erfahrung: „Der Film spiegelt die Wirklichkeit wider.“ Heißt konkret: Fünf anstrengende Kursabende auf kleinen Stühlchen in der Primarschule. Daran änderte auch seine freundschaftliche Verbundenheit mit drei Mitgliedern der fünfköpfigen Einbürgerungskommission nichts. Und am Ende blieb die Erkenntnis, „dass leidensfähig sein muss, wer Schweizer werden will“.
Zunächst die Friedrich-Voith-Schule besucht
Auch in Heidenheim, wo er 1959 zur Welt kam, musste Gatter zunächst auf kleinen Stühlen büffeln. Vom elterlichen Haus in der Hansegisreute war’s nicht weit bis zur Friedrich-Voith-Schule. Etwas komfortabler nahmen sich später die Sitzgelegenheiten im Hellenstein-Gymnasium aus, die Zensuren hingegen fielen ab: „Ich war ein miserabler Schüler, hatte in Französisch eine glatte Sechs.“ Der junge Raimond eckte außerdem an, weil er den Mut aufbrachte, sich „mit ein paar alten Nazis anzulegen“.
Der Wechsel aufs Technische Gymnasium veränderte manches. Die Noten waren gut, und es schälte sich der Wunsch heraus, Ingenieur zu werden. Gatter leistete seinen Wehrdienst ab, studierte in Sigmaringen Druck-, Haushalts- und Ernährungstechnik, hatte nach einem Praxissemester die ersten Stellenangebote. Schnell meldete er sein erstes Patent an, und heute steht unter mehr als 100 Schutzrechten der Name des international tätigen Produktentwicklers und Geschäftsführers deutscher, amerikanischer und schweizerischer Unternehmen.
Den eigenen Backofen entwickelt
Bei Kärcher in Winnenden hatte er es mit Feldküchen, Hochdruckreinigern und Autowaschanlagen zu tun, bei den Elro-Werken in Bremgarten mit Großküchen, bei den Hansa-Metallwerken in Stuttgart mit Sanitärtechnik, bei der BSH-Tochter Neff in Bretten mit Getränkeautomaten. Und mit Backöfen: „Einen von mir entwickelten mit der Funktion eines Gärschranks habe ich heute noch“, sagt Gatter, der durchaus einmal mit dem Gedanken spielte, nach China zu gehen. Ein Headhunter überzeugte ihn jedoch von einem Wechsel in die Schweiz.
Geografisch betrachtet war’s ein eher kleiner Schritt, sprachlich allerdings ein nicht unerheblicher. „Schwyzerdütsch ist ganz schön schwierig zu lernen“, sagt der 65-Jährige, dessen beiden Kinder es darin offenbar gleichwohl zur Perfektion gebracht haben. Auch Gatter selbst ließ sich nicht abschrecken, blieb zusammen mit seiner Frau – das Paar ist seit 1984 verheiratet – nicht nur die zunächst ins Auge gefassten zwei oder drei Jahre, sondern mittlerweile mehr als 25.
Für immer ein Mensch mit Migrationshintergrund
Und mehr als das: Für Gatter war klar, sich mit dem Ziel der doppelten Staatsbürgerschaft den echten „Schweizermachern“ zu stellen, „weil ich dort, wo sich mein Leben abspielt, mit abstimmen möchte, auch wenn ich immer ein Mensch mit Migrationshintergrund bleiben werde“, sagt er.
Was hat dieser Schritt aus dem – wie er sich selber scherzhaft bezeichnet – gebürtigen Schwaben und gelernten Schweizer gemacht? Die Entscheidung habe seine Lebenserwartung schlagartig um drei Jahre erhöht, scherzt Gatter. Grund: In der Schweiz seien die Menschen nicht im Dauerstress, außerdem weniger direkt („Etwas ist nicht hässlich, sondern speziell.“) und diplomatischer („Wenn der Chef einen Auftrag erteilt, dann sagt er: Man sollte mal.“).
Das Arbeitsleben sei von einem entspannteren Umgang miteinander geprägt, sagt Gatter und nennt sich einen Freund der langen Leine, der seinen Mitarbeitern Fehler zubilligt. Allerdings hat die Nachsicht Grenzen: „Ich kann ziemlich streng sein, denn manchmal braucht es Klartext. Kompromisse sind dann ein Nachteil, wenn Innovationen bereits getötet werden, ehe sie auf die Welt kommen.“
Auch ehrenamtlich spielt Gatter auf vielen Hochzeiten, ist bei den Rotariern aktiv, übernimmt Fahrten fürs Rote Kreuz, bietet Integrationskurse für Ingenieure aus Deutschland an, engagiert sich für die Ukraine-Hilfe, repariert alte Fahrräder und gibt sie an Bedürftige weiter. Seinen künstlerischen Talenten lässt er freien Lauf, wenn er als Hobbybildhauer zu Hammer und Meißel greift oder mit Aphorismen („Wer sich selbst auf den Arm nimmt, muss nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen.“) und humoristischen Gedichten den Herausforderungen des Alltags Paroli bietet. Obwohl in mehreren Büchlein veröffentlicht, finden sie ihre leidenschaftlichste Leserschaft angeblich im engsten familiären Umfeld: „Meine Mutter ist mein einziger und größter Fan.“
Rückkehr nach Heidenheim nicht ausgeschlossen
Aus der Warte desjenigen, der nur alle paar Monate einmal in seine Geburtsstadt kommt, zeigt sich Gatter erschrocken, „wie schmutzig die Stadt geworden ist“. Er bedauert das anhaltende Sterben der kleinen Läden, die zahlreichen Leerstände, unübersehbare Bausünden. Kann er sich für den Ruhestand trotzdem eine dauerhafte Rückkehr an die Brenz vorstellen? Die Antwort lässt vieles offen: „Ich bin Europäer. Meine Wurzeln liegen in Deutschland, meine Heimat ist die Schweiz.“
Zwischen den Zeilen klingt freilich eine nach wie vor große emotionale Verbundenheit mit der Stadt durch, in der seine Mutter und sein Schwiegervater leben, deren Bauhof sein Großvater Friedrich einst leitete, die ihre Schönheit oft erst auf den zweiten Blick offenbart: „Trotz aller Schwächen ist Heidenheim immer noch sehr attraktiv durch sein Schloss und den vielen Wald. Auch deshalb habe ich die Stadt früher schon geliebt und mir lange nicht ausmalen können, für immer wegzugehen.“
Streiter für die Demokratie
Raimond Gatter ist politisch engagiert, ohne einer Partei anzugehören. Dass er in Deutschland Tendenzen ausmacht, die ihn an totalitäre Systeme erinnern, lässt in ihm die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt wachsen. Seine Mahnung: „Jeder ist mitverantwortlich für das, was um ihn herum passiert.“ Eine Demokratie müsse ständig gelebt und verteidigt werden. Im März dieses Jahres verlegte er deshalb nahe der Feuchtinger´schen Unterführung in Heidenheim einen Stolperstein im Gedenken an seine Großtante Friederike Gatter. Sie war 1941 von den Nationalsozialisten in Bernburg an der Saale vergast worden.