Was vor 60 Jahren geschah

Warum viele Heidenheimer im Oktober 1963 stolz nach Bonn blickten

Im Oktober 1963 reichte Bundeskanzler Konrad Adenauer seinen Rücktritt ein. Warum das in Heidenheim mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt wurde.

Warum viele Heidenheimer im Oktober 1963 stolz nach Bonn blickten

60 Schreibmaschinenseiten umfasst die Regierungserklärung, die Ludwig Erhard am 18. Oktober 1963 im Deutschen Bundestag abgibt. Zwei Tage zuvor haben ihn die Abgeordneten bei 279 Ja- und 180 Nein-Stimmen sowie 24 Enthaltungen in Bonn zum Nachfolger Konrad Adenauers gewählt. Dessen persönlich an Bundespräsident Heinrich Lübke übergebenes Rücktrittsgesuch endet mit den Worten: „In besonderer Verehrung bin ich Ihr sehr ergebener Adenauer.“

Kurz darauf verabschiedet sich Adenauer im Rahmen einer großen Feldparade auf dem Fliegerhorst Wunstorf bei Hannover von der Bundeswehr. Mehr als 5.000 Soldaten sind angetreten, während 100.000 Zuschauer – darunter 3.000 Ehrengäste aus dem In- und Ausland – die Rollbahn säumen. Mahnende Worte richtet Adenauer später bei einer Kundgebung der CDU in der Kölner Messehalle an seine eigene Partei: „Schlafen Sie nicht auf Ihren Lorbeeren. Das ist eine schlechte Unterlage.“

Ludwig Erhard in Heidenheim sehr beliebt

Gemeint ist zwischen den Zeilen in erster Linie der Neue im Kanzleramt, der eigentlich ein Altbekannter ist. Während Ludwig Erhard mit Adenauer ein gelinde gesagt angespanntes Verhältnis verbindet, begleitet ihn das ausgeprägte Wohlwollen vieler Heidenheimer in sein neues Amt. Der langjährige Bundeswirtschaftsminister ist sehr beliebt an der Brenz. Bei der Bundestagswahl am 17. September 1961 hat er im Wahlkreis Ulm, der seinerzeit auch Heidenheim einschließt, zum vierten Mal nacheinander das Direktmandat errungen. Und nun folgt also die Krönung der politischen Karriere.

Wäre die Heidenheimer Zeitung das größte Boulevardblatt Deutschlands, der Titel lautete bestimmt, angelehnt an die Formulierung nach einer Jahrzehnte später über die Bühne gehenden Papstwahl: „Wir sind Kanzler“. Schwäbisch zurückhaltend vermeldet die HZ stattdessen: „Ein ,Heidenheimer‘ wird heute Kanzler.“ Es folgt eine Würdigung seiner Nahbarkeit und seines Einsatzes für den Wahlkreis, die ihn „bis ins hinterste Härtsfelddorf“ geführt habe.

Im Oktober 1963 verteilen sich 21.000 Kraftfahrzeuge auf den Landkreis. Dieser Blick auf die Grabenstraße in Heidenheim zeigt, dass es mancherorts bisweilen eng zugeht. Archiv

Kopfschütteln über manche Gepflogenheit

Dass der neue Regierungschef sichtlich nervös noch etwas mit den ungewohnten Gepflogenheiten hadert, findet ebenfalls Erwähnung. So nimmt Erhard am ersten Tag seiner Kanzlerschaft kopfschüttelnd nicht mehr neben dem Fahrer seiner Dienstlimousine, sondern im Fond des Wagens Platz. Das war’s dann aber auch schon mit den Usancen des Amtes: „Den kleinen Polizei-Porsche, der vor Konrad Adenauer immer den Weg freizumachen pflegte, hatte Erhard von vornherein abbestellt“, ist anderntags zu lesen.

Kraftfahrzeuge sind auch im Kreis Heidenheim ein Dauerthema. Ihre Gesamtzahl – Autos, Lastwagen, Busse, Motorräder und Zugmaschinen zusammengerechnet – liegt mittlerweile bei mehr als 21.000, nachdem es 1950 gerade einmal 2.931 waren. Auf und neben den Straßen wird es folglich eng und enger. Die Stadt Heidenheim lässt denn auch eine Vielzahl von Parkuhren aufstellen, um ein halbwegs geordnetes Verkehrsgeschehen sicherzustellen.

Blick auf die Christianstraße: Sowohl der Christkindles- als auch der Wochenmarkt müssen 1963 an einen anderen Standort wechseln, weil der Platz für die Arbeiten am neuen Rathaus und am Gefängnis benötigt wird. Archiv

Unterdessen steht der Wochenmarkt vor einem Wechsel an den Wedelgraben zwischen Ulmer Straße und „Schwanen“. Grund: Die Grabenstraße scheidet als Standort künftig aus, da sie zu einer Durchgangsstraße mit Einbahnverkehr in Süd-Nord-Richtung umgestaltet werden soll. Gleichzeitig steht die Christianstraße nicht mehr zur Verfügung. Sie wird von den Firmen in Anspruch genommen, die die Aushubarbeiten für die Tiefgarage des neuen Rathauses zu erledigen haben.

Angesichts der zahlreichen Unfälle, die mit der wachsenden Verkehrsdichte einhergehen, kommt dem freiwilligen Polizeidienst eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. 28 Männer - aus 100 Bewerbungen ausgewählt – bekommen während eines 92-stündigen Lehrgangs eine Einweisung in Fragen verschiedener Rechtsbereiche. Normalerweise in völlig anderen Berufen tätig, sollen sie das Rüstzeug dafür erhalten, die Polizeibeamten künftig an Wochenenden und Feiertagen zu entlasten. Hauptkommissar Erwin Hinz ermahnt sie in seiner Einführungsrede, ihre Aufgabe ernst zu nehmen.

Schulbank drücken heißt es für 28 Männer, die sich 1963 in Heidenheim für den freiwilligen Polizeidienst beworben haben. Archiv

Aus anderen Gründen stehen derweil weitere Personen aus dem Landkreis im Blickpunkt. In Heuchlingen wird Friedrich Knauß mit überwältigender Mehrheit zum Bürgermeister gewählt. Bemerkenswert: Der 43-Jährige ist mehrfacher Deutscher Meister im Kunstspringen und im leichtathletischen Vierkampf der Versehrten. Hans Knoth vom TSB Heidenheim steigert im Zehnkampf den Kreisrekord auf 5.478 Punkte. Walter Birkhold vom VfL Heidenheim trägt in der Partie der DFB-Amateure gegen Südvietnam zum zehnten Mal den Nationaldress des Deutschen Fußballbundes.

Hans Wulz, Rektor und stellvertretender Vorsitzender des CDU-Kreisverbands, feiert am 1. November seinen 50. Geburtstag. Während aus diesem Anlass das eine oder andere Gläschen Sekt gereicht wird, verzichtet die Belegschaft der Firma Carl Zeiss geschlossen auf den Verzehr von Milch im Betrieb. Grund für diesen Konsumstreik ist eine am 1. Oktober in Kraft getretene Preiserhöhung. Ein halber Liter Trinkmilch im Tetra-Beutel kostet jetzt nicht mehr 29, sondern 35 Pfennige. Viele Beschäftigte bemängeln nicht nur, dass die Landwirtschaft mit lediglich 0,8 Pfennig davon profitiert, sie machen darüber hinaus für sich eine Gehaltserhöhung geltend.

Kompromissvorschlag: Buttermilch zwei Pfennige günstiger

Es folgt ein Spitzengespräch zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften, Bezirksmilchverwertung und Bauern. Ergebnis: In Kantinen, die weniger als 500 Liter Milch pro Tag abnehmen - so bestimmt es eine Verordnung - darf zwar keine Vergünstigung gewährt werden. Allerdings steht eine rechtliche Änderung bevor. Bis die erfolgt, soll der Preis für einen halben Liter Buttermilch und für eine Flasche Joghurt um jeweils zwei Pfennige sinken. Ob dieser Kompromiss zu einem Ende des Boykotts führt, ist zunächst offen.

Warum ausgerechnet 60 Jahre zurück?

Im Dezember 2008 war der Lokschuppen Schauplatz eines Festabends, bei dem eine seit 60 Jahren bestehende freie und unabhängige Presse in Heidenheim im Mittelpunkt stand. Damals mischten sich Aus- und Rückblicke. Unter anderem wurde die Idee geboren, regelmäßig in Erinnerung zu rufen, worüber die HZ jeweils 60 Jahre zuvor berichtet hatte. Die Serie startete mit der Rückschau auf 1949. Mittlerweile gilt das Augenmerk dem Jahr 1963.