Was Heidenheim im September 1963 bewegte
60 Mann: Das ist die Sollstärke für den geplanten Freiwilligen Polizeidienst im Kreis Heidenheim. Landauf, landab können sich im September 1963 Bewerber melden, deren Aufgabe es nach einer zweiwöchigen Grundausbildung sein soll, die örtliche Polizei bei Bedarf vor allem im Streifendienst zu unterstützen.
Dass die gesteckte Marke in Heidenheim fast auf Anhieb erreicht ist, dürfte an den damit verbundenen Vorteilen liegen: keine Einberufung zum Wehrdienst, Wissen in verschiedenen Rechtsbereichen, Schießausbildung, Unfallschutz, Entschädigung bei Verdienstausfall. Manch einen mag freilich vor allem die Dienstkleidung reizen. Darauf lässt zumindest eine Mitteilung der Bundeswehr schließen. Bei der Musterung des Jahrgangs 1944 in Heidenheim, Ulm und Nürtingen zeigt sich, dass die meisten Wehrpflichtigen zum Bodenpersonal der Luftwaffe einberufen werden wollen. Grund: Die blaue Uniform sei schicker als die graue der Heeresverbände.
Menschliches Versagen als Unfallursache
Interessantes Anschauungsmaterial bekommen die künftigen Polizeifreiwilligen derweil frei Haus geliefert, wobei die Realität bisweilen auf bemerkenswerte Art und Weise mit der Theorie Schritt zu halten versucht. Beispiel: Vor dem Verband der Berufskraftfahrer weist Polizeiobermeister Trunk in Giengen darauf hin, Unfälle seien meist nicht auf den Zustand von Straßen und Fahrzeugen zurückzuführen, sondern auf menschliches Versagen.
Den Beweis liefert ein Mann vor einer Gaststätte in Schnaitheim. Auf seinem Heimweg verspürt er das Verlangen, von einem Pkw mitgenommen zu werden und hält sich deshalb am Türgriff fest. Weil der Chauffeur davon nichts bemerkt, kommt der verhinderte Mitfahrer auf dem Gehweg zu Fall und wird einige Meter mitgeschleift. Mit Blessuren im Gesicht und an den Beinen geht es geradewegs ins Krankenhaus.
Kein Promille-Höchstwert bei Radfahrern
Erstaunliches offenbart unterdessen eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Während aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse für Kraftwagenführer beim Blutalkoholgehalt ein Höchstwert von 1,5 Promille gelte – bei Motoradfahrern 1,3 Promille –, könne für Radfahrer keine allgemeine Grenze festgelegt werden. Grund: Der Verkehr stelle an die Leistungsfähigkeit eines Radfahrers andere Anforderungen als an die eines Auto- bzw. Motorradfahrers.
Viel Platz folglich für Interpretationen, während in den Heeräckern auf dem Heidenheimer Schlossberg unverrückbare Fakten geschaffen werden. Stück für Stück wird die alte Polizeischule abgerissen und entsorgt. Einen Teil der Ziegelsteine säubern allerdings die Sportschützen, um sie für ihren nahegelegenen Neubau zu verwenden.
Auch die Brenzschule sieht ihrem Ende entgegen: Um einen Durchbruch von der Graben- zur Marienstraße zu schaffen, soll das Gebäude weichen, sobald THW und DRK andere Unterkünfte gefunden haben.
Kollegialen Besuch aus den USA erhält unterdessen die Heidenheimer Polizei. John Kelly aus Brooklyn, Mitglied der International Police Association, einer Berufsvereinigung von Polizeibediensteten aus mehreren Dutzend Ländern, hat sich sieben Monate lang bei Scotland Yard in London weitergebildet. Jetzt macht er auf einer Rundreise durch Europa auch an der Brenz Station. Polizeihauptkommissar Hinz überreicht ihm zur Erinnerung ein Bild von Schloss Hellenstein.
Einen unmittelbaren Eindruck von der Schlagkraft der hiesigen Kollegen kann sich Kelly obendrein bei einem spektakulären Einsatz an der Bindsteinmühle verschaffen: Nach einer Schießerei werden im strömenden Regen sieben aus dem Ulmer Gefängnis ausgebrochene Häftlinge dingfest gemacht. Was zunächst an einen US-amerikanischen Gangsterstreifen erinnert, ist schlussendlich doch nicht ganz so spektakulär: Bei der Aktion handelt es sich um eine landkreisübergreifende Übung.
Abgesehen von Recht und Ordnung, dreht sich im Landkreis Heidenheim im September 1963 Vieles um den Hoch- und Tiefbau. In Oggenhausen wird die St.-Josefs-Kirche geweiht, in Sachsenhausen wächst das neue Schulgebäude in die Höhe, am evangelischen Kindergarten Bolheims im Buchfeld wird ebenso Richtfest gefeiert wie am Ochsenberger Schulhaus.
Die kreisweit auf mittlerweile 19.755 angewachsene Zahl von Kraftfahrzeugen macht umfangreiche Investitionen unumgänglich. „Das Jahr 1963 ist das Jahr des Straßenbaues, wenigstens im Kreis Heidenheim“, urteilt die Heidenheimer Zeitung mit Blick auf die Vielzahl der Vorhaben: Die Landstraße zwischen Frickingen und Katzenstein wird ausgebaut, die Oberdorfstraße in Mergelstetten begradigt, an der Paul-Hartmann-Straße entsteht eine neue Brücke über die Brenz, die Brenzstraße in Heidenheim erhält einen frischen Belag.
Außerdem entstehen an mehreren Stellen in der Innenstadt Zebrastreifen, was lange Staus zur Folge hat. „Nur dem Eingreifen der Beamten der Landespolizei war es zu verdanken“, beschreibt die HZ das Geschehen, „dass der Verkehr nicht völlig zusammenbrach, zumal zeitweise amerikanische Militärkolonnen die Straße durchfuhren.“
Der anhaltende Bau-Boom hat auch andernorts überraschende Auswirkungen. Früher als geplant bekommen 100 Eber und 120 tragende Jungsauen ihren großen Auftritt in Ulm: Weil in der dafür vorgesehenen Donauhalle die Ausstellung „Fertighaus 63“ stattfindet, wird die Zuchtschweineversteigerung vorverlegt.
Warum ausgerechnet 60 Jahre zurück?
Im Dezember 2008 war der Lokschuppen Schauplatz eines Festabends, bei dem eine seit 60 Jahren bestehende freie und unabhängige Presse in Heidenheim im Mittelpunkt stand. Damals mischten sich Aus- und Rückblicke. Unter anderem wurde die Idee geboren, regelmäßig in Erinnerung zu rufen, worüber die HZ jeweils 60 Jahre zuvor berichtet hatte. Die Serie startete mit der Rückschau auf 1949. Mittlerweile gilt das Augenmerk dem Jahr 1963.