Episode aus Heidenheimer Voith-Siedlung in neuem Buch
Oft sind es kleine Episoden, die große Geschichte greifbar machen. Welche Spuren gab und gibt es zum Beispiel von jüdischem Leben in Württemberg? Es gibt wissenschaftliche Abhandlungen, die sich dieser Frage annehmen. Für sich im Detail und damit gleichzeitig im Namen des großen Ganzen sprechen aber auch die exemplarischen Schilderungen lokaler Geschehnisse.
Diese Aufgabe leistet ein von Martin Janotta und Josef Herbasch herausgegebenes Buch: „Jüdisches Leben in Württemberg. Gestern und heute.“ Auch HZ-Redakteur Jens Eber hat zwei der 31 Kapitel beigesteuert, die sich auf verschiedene Städte und Gemeinden beziehen. Sie handeln von Vertreibung und Gewalt. Aber auch von Vergebung und Miteinander. Und von dem schmalen Grat, der oftmals zwischen diesen Polen verlief und verläuft, sodass sich zum Lichtblick für die einen entwickelt, was anderen die Lebensperspektive verdunkelt.
Artur Brauner: Filmproduzent jüdischer Abstammung
Beispiel Heidenheim. Und Beispiel Artur Brauner. Mit akkurat gestutztem Oberlippenbart und Glatze haben viele den unter dem Spitznamen Atze bekannten und 2019 im Alter von 100 Jahren verstorbenen Filmproduzenten jüdischer Abstammung bis heute vor Augen. Einem großen Publikum bescherte er nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise Edgar-Wallace-Streifen und damit fiktive Stoffe, während seine Familiengeschichte nicht tiefer in der Realität verankert sein könnte.
Womit der Blick auf die Voith-Siedlung gelenkt ist. Dort richteten die amerikanischen Militärbehörden 1946 ein Lager für sogenannte „Displaced Persons“ ein (ein zweites entstand auf dem Gelände der ehemaligen Polizeischule auf dem Schlossberg). Gemeint sind damit Menschen, die aus den Konzentrationslagern und von der Zwangsarbeit unterm Joch der Nazis befreit worden waren.
1.300 Bewohner mussten die Voith-Siedlung verlassen
Etwa 1.300 Bewohner mussten die Siedlung verlassen, stattdessen zogen 1500 Personen in die Häuser und Wohnungen ein, darunter viele polnische Juden. Verloren also die einen ihre Heimat, erhielten an gleicher Stelle die anderen ein Dach über dem Kopf. So auch Brauners Eltern Moshe und Bronja, die mit ihren jüngeren Kindern in Heidenheim Zuflucht fanden. Geradezu filmreif ist zu nennen, was sich am 17. November 1946 in der Voith-Siedlung abspielte: Artur und sein Bruder Wolf heirateten dort am selben Tag. Ein etwas ungelenk angefertigtes Foto zeigt die beiden zusammen mit ihren Bräuten Maria und Rebecca.
In Heidenheim gab es keine Synagoge
In Heidenheim gab es keine jüdische Gemeinde und auch keine Synagoge. Insofern bleibt die Brauner-Geschichte im Unterschied zu anderen Städten und Gemeinden eine Einzelaufnahme, wohingegen die übergeordnete Thematik andernorts auch aufgrund der Erinnerungskultur bis heute eine weitaus größere Rolle spielt.
So gilt der Blick der Autorinnen und Autoren unter anderem der alten wie auch der neuen Synagoge in Stuttgart, Stolpersteinen für deportierte jüdische Mitbürger aus Bonfeld, dem Umgang Tübingens mit den Folgen antisemitischer Umtriebe und einem Beispiel aus Buttenhausen für gelebte Toleranz zwischen Juden und Christen.
Verständigung zwischen Juden und Christen als Ziel
Die in dem Buch enthaltenen Beiträge sind 2021 und 2022 unter dem Titel „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ im Evangelischen Gemeindeblatt für Württemberg erschienen. Ihnen allen ist gemein, dass sie zum Nachdenken anregen können über ein großes Anliegen Artur Brauners: die Aussöhnung zwischen Juden und Christen. Es geht dabei um die Verständigung zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionen und Nationalitäten. Um - wie Brauners Tochter Alice das im Geleitwort zum Buch nennt - Momente der Menschlichkeit.
Das Buch „Jüdisches Leben in Württemberg“ ist im Verlag Junge Gemeinde erschienen, ISBN 978-3-7797-3807-7.