Geraucht wird viel. Aber nicht in Sevilla. Auch von einer Zigarettenfabrik ist weit und breit nichts zu sehen. Diesmal arbeiten die Frauen in einer gut bewachten Waffenschmiede; irgendwo in den USA. Denn Carrie Cracknell hat „Carmen“ ins Hier und heute geholt. Und tatsächlich kommt Georges Bizets Oper an der Met in New York so frisch über die Rampe, als wäre sie erst gestern aus dem Ei geschlüpft.
Wer kann, der kann. Und es gibt keinen Moment in der Inszenierung, in dem sich die englische Regisseurin irgendetwas aus der bald 150 Jahre alten Vorlage zurechtgezimmert hätte, um den Bogen in die Echtzeit spannen zu können. Eine Oper ist eben doch nicht automatisch reif fürs Museum. Es kommt halt darauf an, was man draus macht. Und der Torero? Der fährt diesmal Motorrad und ist beruflich ein Rodeo-Star.
Pure Erotik
Was dieses Umtopfen eines Klassikers auf eine Wiese von heute vollends zum Kunststück macht, ist, dass Carrie Cracknell bei alldem nicht nur nicht die Musik vergisst, sondern szenische Lösungen findet, die der Musik und deren Wurzeln noch einmal regelrecht frisches Wasser zuführen.
Zum Beispiel zu Beginn des zweiten Aktes, den Carmen und ihre Freundinnen nicht wie sonst in der Gartenwirtschaft des Lillas Pastia verbringen, sondern tanzend auf der Ladefläche eines Trucks, dessen Räder sich drehen, als schösse er nur so dahin, was sich im Zusammenhang mit der an dieser Stelle gereichten musikalischen Kostbarkeit, die sich, ausgehend von einem sehr zurückhaltenden Flamenco, mit exotischer Harmonik und synkopiertem Tamburin-Takt in einem großen Crescendo und mit immer noch mehr hinzukommenden Instrumenten zu einem rasenden Rausch in furiosem Presto und mit sinnlich hypnotischer Wirkung entfesselt. Pure Erotik. Allein für diese paar Minuten hätte sich der Samstagabend im Heidenheimer Kino-Center schon gelohnt.
Trifft den Nerv
Ansonsten war einmal mehr zu entdecken, dass die „Carmen“ immer dort ihre schönsten Momente hat, wo gerade keiner ihrer Superhits verhandelt wird. Und dass allein ein Dirigent, der sich dessen bewusst ist und sich um die oft uninspiriert verschenkten Finessen dieser nicht selten unter Wert abgenudelten Partitur kümmert, schon einiges bewirken kann.
Was jedoch der bereits mit einem über alle Maßen feinen „Rigoletto“ und mit einem außer Rand und Band herausragenden „Falstaff“ an der Met in Erscheinung getretene Daniele Rustioni aus „Carmen“ herausholt, ist schlicht sensationell. Und dies von den ersten Sekunden der Ouvertüre an.
Nicht nur, dass seine Tempi das Geschehen auf der Szene ständig und in jedem Fall unter der idealen Dosis Strom halten. Es ist die Art und Weise, wie der Italiener mit dem ihm begeistert folgenden Orchester immer und in egal welcher Phase des äußeren oder inneren Geschehens den Nerv einer Geschichte trifft, die man so plötzlich bei Weitem nicht nur wegen der diesmal ebenfalls ungewöhnlichen Szenerie nicht als sattsam bekannt mitnimmt, sondern in die hinein man sich auch musikalisch mitreißen lässt, als bekomme man sie zum ersten Mal erzählt.
Ende ohne Messer
Rustioni beschwört so auch aus dem Graben heraus eins zu eins diese explosive Gemengelage aus Eros und Gefahr, subtiler Gewalt, hilfloser Wut, heilloser Begierde, aufreizender Überheblichkeit oder falscher Bescheidenheit herauf, die allem zugrunde liegt und für die auf der Bühne die Mezzosopranistin Aigul Akhmetshina darstellerisch und stimmlich in einer Art und Weise sorgt, dass einem immer wieder glatt die Luft wegbleibt. Warum sich die führenden Opernhäuser dieser Welt um die 27-Jährige aus der im östlichen Teil des europäischen Russlands gelegenen Ural-Republik Bashkortostan reißen, muss man nach einer solchen Vorstellung nicht mehr fragen. In Hot Pants und Cowboystiefeln und mit der Seguidilla auf den Lippen ist Aigul Akhmetshina mit Sicherheit die gefährlichste Carmen, die einem Mann begegnen kann.
Und selbstverständlich dürfen auch in dieser als Ganzes so spektakulär gelungenen „Carmen“ die Männer davon mehr als nur ein Lied singen. Zuallererst selbstverständlich der José des polnischen Startenors Piotr Beczała, der nach ein paar heiklen Situationen ganz zu Beginn ebenfalls ein aus dem gesanglichen Blickwinkel betrachtet großes Fass aufmacht. Überhaupt präsentiert sich die gesamte Abteilung Gesang inklusive Chor in Bestform. Und sogar noch einmal besser ist das, was die Sopranistin Sidney Mancasola nicht zuletzt in den höchsten Höhen aus der eher kleinen Partie der Frasquita macht.
Was für ein Abend! Und wie wird die Titelheldin diesmal erstochen? Gar nicht. José erschlägt sie. Mit einem Baseballschläger. Carmen in Amerika.
Weiter geht’s mit Verdi
Weiter geht’s im Met-Kino am Samstag, 9. März, wenn ab 18 Uhr Giuseppe Verdis „La forza del destino“ live aus der Metropolitan Opera in New York ins Kino-Center nach Heidenheim übertragen wird.