In den Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat und nicht zu jedwedem Phänomen bewegte Bilder auf Youtube bereitgehalten wurden, erhitzten unter anderem sie die Gedanken und Vorstellungen der Menschen: Nixen und Undinen. Wassergeister. Am besten weiblich. Jungfräulich. Zwar gibt es auch den Nix. Aber der grobklotzige, mit Schlick und Algen behangene Wassermann taugt in den Geschichten höchstens als übelgelaunter Vater von Meer- oder Seejungfrauen, mit dem man vor der Aufklärung des Handyzeitalters vielleicht Kinder in Angst und Schrecken versetzen konnte. Keiner für die Begierde jedenfalls.
Begehrt, gesucht, beliebt waren die jungen, attraktiven Wasserdamen, die offenbar auch Flüsse bewohnten. Vieldiskutiert in deutschen Landen war etwa eine Nixensichtung in der Lahn im Jahre 1615. Und von den Undinen und Rusalken in den Erzählungen, Märchen, der Literatur insbesondere der deutschen Romantik oder des slawischen Opernrepertoires oder von Odysseus‘ Sirenen und Disneys Arielle am zeitlich anderen Ende des Erzählstrangs wollen wir erst gar nicht anfangen.
Meer, See, Fluss
An der Brenz indes weiß man nix von einer Nixe. Dennoch spielte eine am Samstagabend und am Sonntagabend beim doppelten zweiten Heidenheimer Winterballett im Festspielhaus auf dem Schlossberg die Hauptrolle: „Undine“. Ein „Traumballett“ von Alfred Schreiner. Und ein Traum von einem Ballett dazu. Getanzt von einem Ensemble des Bayerischen Staatstheaters am Münchener Gärtnerplatz. Und mit Musik von Gustav Mahler. Dessen 10. Sinfonie, Mahlers „Unvollendete“, war, hier in Michelle Castellettis Fassung für Kammerorchester, die Grundlage für Schreiners Choreographie und lag in Heidenheim in der Verantwortung von Opernfestspieldirektor Marcus Bosch und der Cappella Aquileia.
Mahler und Undine. Das muss ganz und gar nicht abwegig sein. Tatsächlich hätten dem Komponisten Nixen in allen Spielarten ihres Elements begegnen können. Am Attersee in Österreich, wo Mahler einige Jahre urlaubte. Im Atlantik bei der Überfahrt nach New York, wohin es den Dirigenten von Wien und von der Donau hinüberzog. Oder in einem Löffel Wasser woraus auch immer, in dem, wenn man Zeitzeugenberichten glauben darf, Orchestermusiker und Sänger der Metropolitan Opera den Maestro, der von ihnen das gleiche unerschöpfliche Arbeitspensum und das gleiche unaufhörliche Engagement verlangte, das er selber vorlebte, liebend gern ertränkt hätten.
Kalt und warm
Doch ob nun Mahler und das Meer, der See oder der Fluss, bleiben wir zunächst mal bei Mahler in New York. Eine Zeit unmittelbar vor dem Beginn mit der Arbeit an der Zehnten. Hier, am Atlantik, am Hudson und am East River, erfüllte sich nicht unbedingt der (wohl ab und zu in uns allen wohnende) Wunsch des Komponisten, nicht nur zu sein, der man war oder ist. Der Reiz des Neuen und Ungewissen war auch mit im Jubel nicht untergehenden Enttäuschungen verbunden. Und nach der Rückkehr kam’s noch dicker. Zu gesundheitlichen Problemen gesellte sich, pünktlich zu Beginn der bald wieder abgebrochenen Arbeiten an der erst nach Mahler von anderen Kollegen nach und nach vollendeten „Unvollendeten“, die Untreue der Gattin Alma. Und der Schmerz darüber explodiert, wie der Musikwissenschaftler Jens Malte Fischer dies einmal interpretiert hat, im berühmten Neuntonakkord des ersten (und fünften) Satzes der zehnten Sinfonie.
Das Nichtbeherrschen der Kunst, zu bleiben, wer man ist oder zu lieben, was man hat, ist ja auch in den meisten Undinen- und Nixengeschichten thematisiert. Einerseits lassen sich hier, vom scheinbar alles habenden Prinzen bis zum deutlich mehr wollenden Müllerssohn, Männer von ihren Begierden nach Unerreichbarem und Andersartigem in Untiefen oder gleich in den Sumpf locken. Andererseits sehnen sich kaltblütige Schönheiten nach der Verheißung des warmen Pulsschlags einer anderen Welt, in der sie aber dann doch letztendlich zum Scheitern verurteilt sind. Und immer ist dabei die Rede von Liebe. Man kann zueinander nicht kommen.
Intensiv und dicht
Solche und bestimmt andere Gedanken mehr drängen sich auf bei der im Mai 2021 uraufgeführten Münchener „Undine“. Was die Handlung anbelangt, so wird hie wenig Konkretes augenfällig, das Publikum darf sich eigene Reime darauf machen, was ja durchaus auch seinen Reiz hat. Blau als Farbe spielt selbstverständlich eine gleichsam wässernde Rolle im ansonsten eher kargen Bühnenbildgeschehen mit unter anderem einer sehr stimmigen farbigen Kostümgegenüberstellung der braungrünen „Erdmännchen“ und der blauen Wassermädchen inklusive einer kleinen Bademodenschau.
Die Tableaus der Choreographie hingegen atmen sehr intensiv und dicht Neugier, Verlangen, das jeweilige Vertrautmachenwollen mit der Welt über beziehungsweise unter Wasser, die zum Scheitern verurteilten Versuche, Teil voneinander diametral gegenüberliegenden Welten zu werden – und schließlich die Einsamkeit nach dem Scheitern. Wobei: Ein wenig Hoffnung, dass sich Undine davon nicht abhalten lässt, weiter in Träume zu investieren, behält man am Ende des Abends dann doch.
Raumgreifende Lyrik
In fast atemloser Spannung zu erleben sind davor pausenlose knapp anderthalb Stunden mit selbstverständlich höchster Körperspannung auf der Bühne. Alle Tänzerinnen und Tänzer sind formidabel. Allen voran Amelie Lambrichts als Undine und Douglas Evangelista als „der Mann ihrer Träume“. Auch die anderen sechzehn Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles haben viel zu tun und bieten, was den Ausdruck anbelangt, in künstlerischer, aber, nicht zu vergessen, was die Leistung betrifft, auch n sportlicher Hinsicht ein grandioses Ganzes.
Mahlers bildmächtige Musik ist bei Marcus Bosch und der Cappella in den allerbesten Händen und beileibe nicht nur eine zweite Hauptdarstellerin neben der Choreographie, sondern bildet ebenso eine geradezu perfekte Grundlage für diese. Bosch und die Cappella bieten raumgreifende Lyrik ebenso wie prägnanten rhythmischen Zugriff. Das klingt ganz großartig.
Konzentrische Ringe
Und wenn man das Bild vom Wasser, das diesen Abend ja prägt, weiterspinnen möchte, dann ist diese Musik schon in ihrer Anlage wie der Stein, der ins Wasser fällt, um dort seine Wirkung zu tun. Denn im Mittelpunkt der Zehnten steht der an und für sich schnell wie eben der Stein im Wasser eines dunklen Teichs verschwindende kurze dritte Satz, den als erster konzentrischer Kreis die beiden Scherzi des zweiten und vierten und als zweiter das Adagio des ersten und das wieder zurück in den Kopfsatz mündende Finale des fünften Satzes umringen.
Und in diesem Sinne, wenn man so will, ist auch beim zweiten Mal das Heidenheimer Winterballett ein großer Wurf. Was die Auslastung anbelangt, hatte man sich nach der schnell ausverkauften Premiere mit „La Strada“ vor Jahresfrist dieses Jahr gleich für zwei Vorstellungen entschieden. Mit dem Ergebnis, dass zwar keine davon ausverkauft war, aber unterm Strich noch einmal mehr Besucher angelockt wurden und an beiden Tagen das Festspielhaus zu drei Vierteln besetzt war.
Nächstes Jahr kommt Peer Gynt
Die nächste Kooperation der Heidenheimer Opernfestspiele mit dem Münchener Staatstheater am Gärtnerplatz ist übrigens schon vereinbart. Am 15. und 16. März 2025 wird es im Festspielhaus dann „Peer Gynt“ mit der Musik von Edvard Grieg geben.