Von Anfang an im Leitungsteam

Weshalb Gertrud Schädler die Heidenheimer Vesperkirche für unverzichtbar hält

In wenigen Wochen beginnt die 16. Heidenheimer Vesperkirche. Gertrud Schädler war bislang stets in verantwortlicher Funktion dabei. Was die Veranstaltung ihrer Meinung nach besonders wertvoll macht.

Gottesdienstraum, Gasthaus, Konzertsaal – eine Vesperkirche dient vielen Zwecken. Gertrud Schädler hält das Angebot in der Pauluskirche auch nach eineinhalb Jahrzehnten für unverändert wichtig. Im Interview erläutert sie, wie der Stuttgarter Pfarrer Martin Friz die Heidenheimer Vesperkirche inspirierte.

Frau Schädler, Sie wissen natürlich, wem dieser Satz zugeschrieben wird: „Menschen, die sich sonst nicht begegnen, sollen an einem Ort zusammenkommen, um miteinander zu leben.“

Gertrud Schädler: Na klar. Sie meinen Martin Friz, den Diakoniepfarrer aus Stuttgart. Von ihm stammt die Idee der Vesperkirche, die dort 1995 in der Leonhardskirche zum ersten Mal stattfand. Er hat seinerzeit die Kirche geöffnet, weil er merkte, dass er in einem bitterkalten Winter etwas für die Wohnsitzlosen tun musste. Schon bald sah er: Das reicht nicht. Deshalb gab’s auch ein Essen. Dann kam der Friseur dazu. Anschließend die Kultur mit Konzerten und vielem mehr.

Weshalb hat er all das nicht in einem Gemeindehaus angeboten?

Friz war klar: Was er vorhatte, funktioniert nicht in einem Gemeindehaus, sondern nur in einer Kirche. Sie ist nun einmal der wichtigste Raum der Gemeinde. Viele Menschen haben mir schon bestätigt, dass etwas mit ihnen passiert, sobald sie in die Heidenheimer Pauluskirche kommen. Man sitzt dort zueinander hin und nicht getrennt voneinander wie in einer schwäbischen Wirtschaft. In der Kirche gibt es keine Unterschiede.

Im Laufe der Jahre haben sich Grüppchen und Freundschaften gebildet. Schön, dass so etwas gelingt, ohne dass man dazu auffordert: Setzt euch zusammen. Es geschah stattdessen einfach so. Fritz hat sich 2010 den Begriff Vesperkirche schützen lassen und gesagt, ein Essen in einem Gemeindehaus dürfe sich nicht so nennen. Ebenso wichtig war ihm: Er wollte nie eine Armenspeisung.

Haben Sie Pfarrer Friz einmal getroffen?

Ja, bevor in Heidenheim etwas Vergleichbares auf die Beine gestellt wurde, haben wir 2008 zusammen mit Pfarrerin Gabriele Mack und Manfred Reim, dem Leiter des Evangelischen Erwachsenenbildungswerks, entschieden, Herrn Friz zu einem Vortrag einzuladen. Und stellen Sie sich vor: Es kamen vielleicht zehn Personen. Das war sehr, sehr traurig. Das Interesse war zunächst also relativ gering. 2009 haben wir ihn dann nochmals eingeladen. Er hat uns damals ermutigt und gesagt: Fangt einfach an. Einer seiner vielen Tipps lautete, dass der Standort möglichst zentral sein sollte.

Was für ein Mensch war er?

Offen und den Menschen zugewandt. Er hat keinen Unterschied gemacht zwischen Arm und Reich, zwischen Prostituierter und Lady.

Entspricht die Heidenheimer Vesperkirche in ihrer heutigen Form seiner Vorstellung?

Auf jeden Fall. Es freut mich sehr, dass es nie an Mitarbeitenden gemangelt hat, seit 2010 die erste Heidenheimer Vesperkirche stattfand, die damals maßgeblich von Dr. Ulrike Hurler und Maria Högerl vorangetrieben wurde. Viele Junge, die im Berufsleben stehen, helfen eben am Wochenende mit. Trotz unvermeidlicher Absagen haben wir es immer geschafft, dass alles funktioniert. Das hängt wahrscheinlich auch mit den akribisch ausgearbeiteten Dienstplänen zusammen. Ich glaube, Herr Friz wäre zufrieden mit uns.

Es gibt von Jahr zu Jahr mehr Vesperkirchen. Im Winter 2024/2025 sind in Baden-Württemberg angeblich 46 geplant. In Heidenheim findet sie in Kürze zum 16. Mal statt. Ist das ein gutes oder schlechtes Zeichen?

Einerseits ist es gut, dass sich auch andere Gemeinden angesprochen fühlen. Aber insgesamt ist es natürlich ein schlechtes Zeichen für unsere Gesellschaft, dass es uns mehr denn je braucht.

Plakativ gefragt: Ist die Vesperkirche ein Pflaster, das eine Wunde in der Gesellschaft für ein paar Tage verdeckt, an der Verletzung allerdings nichts zu ändern vermag?

Ich glaube, da haben Sie recht. Ich höre immer wieder, wie glücklich viele Menschen über diese Tage sind, in denen sie Gemeinschaft erleben und zu essen bekommen. Im Übrigen immer auch etwas Vegetarisches, schon mit Rücksicht auf die muslimischen Gäste. Es ist nur eine momentane Hilfe, aber wenigstens eine kleine Form der Wärme.

Bisweilen wird Kritik laut, die Vesperkirche dauere nur dreieinhalb Wochen …

… und das musste ich mir auch schon mal von einem Freund anhören. Der knurrte mich an: Was ist denn anschließend? Macht es doch das ganze Jahr. Ich habe geantwortet: Erstens geht es finanziell nicht. Und zweitens personell. Schauen Sie, bei der nächsten Vesperkirche müssen wir bei 350 Essen aufhören. Denn was die Mitarbeitenden zuletzt geleistet haben, das schaffen sie nicht mehr. 400 Essen im Durchschnitt – da sind alle am Ende kaputt.

Was hat Sie bewogen, sich von Anfang an bis 2024 im Leitungsteam der Vesperkirche zu engagieren?

Es war die Idee von Pfarrer Friz, über die wir vorhin ja schon gesprochen haben. Und die Überzeugung, dass Kirche Gottesdienstraum und Seelsorge ist, also Hilfe in schwierigen Situationen. Und dass man beides vielleicht verknüpfen kann: das Irdische und das Geistliche. Wir als Menschen brauchen nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Zuwendung und Kultur.

Ich bin jetzt aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dabei. Aber ich stehe immer noch zur Verfügung, um bei Bedarf beispielsweise Schulklassen und Studierenden der Dualen Hochschule etwas über die Vesperkirche zu erzählen.

Wie hat sich die Vesperkirche im Laufe der Jahre verändert?

Rein vom Praktischen her sind wir jetzt ganz gut aufgestellt. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Früher musste das Geschirr zum Spülen noch über die Bahnhofstraße ins Gemeindehaus getragen haben. Mittlerweile gibt es einen Spülwagen, der bei der Kirche steht.

Viele Besucher sind immer noch unverändert glücklich, dass es das Angebot überhaupt gibt. Man muss aber ehrlicherweise auch sagen, dass die Ansprüche mancher Menschen deutlich gestiegen sind.

Sind Sie zufrieden mit dem aktuellen Angebot, oder hätte sich irgendetwas anders entwickeln sollen?

Ich denke, das Angebot bietet sehr viel. Wichtig ist wie schon gesagt, dass es aus Sicht der Mitarbeitenden leistbar bleibt. Wir wollen ja schließlich, dass sie in Zukunft auch noch mit Freude dabei sind und nicht, weil sie müssen. Zum Verständnis muss meiner Meinung nach auch einmal betont werden, dass der Vesperkirche das Essen nicht geschenkt wird. Sie kauft es zum regulären Preis in einer Metzgerei und in der Küche des Klinikums.

Inwiefern spiegelt sich unsere Gesellschaft in der Vesperkirche?

Wir haben Ältere, Jüngere, Behinderte, Gesunde, Wohnsitzlose und Gutsituierte bei uns. Es ist ein Querschnitt durch unsere Heidenheimer Gesellschaft, und das ist auch gut so.

Was meinen Sie: Wird es die Vesperkirche als soziales Projekt auch in zehn Jahren noch geben?

Sie ist eine wunderbare Einrichtung, deshalb wäre es schön, wenn es sie dann noch gibt. Aber ich wage keine Prognose. Wir wissen ja nicht, was noch so alles passiert. Denken Sie aktuell nur an Israel und an Syrien. Und wer weiß denn, wo Putin als Krake noch hingreift?

2016 hat beim Bürgerempfang der Stadt der damalige Oberbürgermeister Bernhard Ilg stellvertretend für die ganze Vesperkirche den Lenkungskreis ausgezeichnet. Er fragte Frau Högerl damals, was sie sich wünsche. Und wissen Sie, was sie nach kurzem Überlegen gesagt hat? Dass man uns eines Tages nicht mehr braucht.

Ich möchte übrigens trotz allem auch eine Lanze für unseren Sozialstaat brechen. Früher gab es Sozialhilfe, heute Grundsicherung im Alter und Bürgergeld. Das darf man nicht vergessen.

Werden Sie auch kommendes Jahr regelmäßig in der Vesperkirche sein, obwohl Sie offiziell keine Funktion mehr innehaben?

Ich habe es natürlich vor.

Was wünschen Sie sich für 2025?

Dass es keinen neuen Krieg irgendwo auf der Welt gibt. Dass ich geistig fit bleibe. Und dass ich mir eine gewisse Zufriedenheit bewahre.

Soziales Engagement als Lebensaufgabe

Gertrud Schädler führte lange eine eigene Buchhandlung in Heidenheim. Ehrenamtlich gehörte die heute 81-Jährige von 1989 bis 2013 dem Kirchengemeinderat der damaligen Paulusgemeinde an, war zeitweise auch dessen Vorsitzende.

Die nächste ökumenische Vesperkirche in Heidenheim findet vom 19. Januar bis 12. Februar 2025 statt. Die Pauluskirche ist dann täglich von 11 bis 14 Uhr geöffnet, Essen werden zwischen 11.30 und 13.30 Uhr ausgegeben.

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