Weshalb vor 60 Jahren in Heidenheim Sirenen für Bayer heulten
60 Kilometer nordwestlich von London bitten in der Nacht zum 8. August 1963 die Gentlemen zur Kasse. Was später unter diesem Titel als Dreiteiler mit Horst Tappert ins deutsche Fernsehen kommen soll, ist der spektakuläre Überfall auf einen Postzug, bei dem eine Bande die bis dahin größte Beute der Geschichte macht: 2,5 Millionen Pfund – zum Zeitpunkt des Raubes entspricht das mehr als 27 Millionen Mark – fallen den Tätern in die Hände.
Auch in Heidenheim macht die Bahn in jenen Tagen Schlagzeilen. Allerdings nicht wegen millionenschwerer krimineller Machenschaften. Und die damals auch an der Brenz kursierenden 50-Dollar-Blüten interessieren schon bald niemanden mehr. Umso höhere Wellen schlagen stattdessen zeitraubende Umwegfahrten, die der wegen Sanierungsarbeiten geschlossene Bahnübergang an der Brenzstraße für Autofahrer mit sich bringt.
43 Minuten für drei Kilometer durch Heidenheim
Einer der Betroffenen wagt im morgendlichen Berufsverkehr einen Selbstversuch. Ergebnis: Für die drei Kilometer lange Strecke bis zur WCM braucht er 43 Minuten. Gleichzeitig kündigt die Bundesbahn aber eine ganze Reihe von Ermäßigungen für Tages-, Wochen- und Urlaubsverbindungen an. „Sonderfahrten in Planzügen“ nennt sich das Ganze und beinhaltet beispielweise Tickets von Heidenheim nach Stuttgart und zurück zum halben Preis. „Von dieser Möglichkeit machen selbst viele Autofahrer Gebrauch“, meldet ein Berichterstatter der Heidenheimer Zeitung, „weil sie dadurch vermeiden, wertvolle Zeit in Stuttgart mit dem Suchen nach Parkraum zu verlieren.“
In einer Zeit, in der der bloße Gedanke an erstklassigen Fußball in Heidenheim allenfalls mit einem mitleidigen Lächeln bedacht wird, stellt die Bahn auch Fahrten zu Begegnungen des VfB Stuttgart in der neugegründeten Bundesliga in Aussicht.
Der Pkw erfreut sich nichtsdestotrotz ungebrochen wachsender Beliebtheit, und so werden in den Rathäusern notgedrungen Maßnahmen ersonnen, um die Ordnung auf den Straßen nicht unter die Räder kommen zu lassen. An der Ecke Karl-/Eberhardtstraße erhält Gerstetten seinen ersten Zebrastreifen. Besonders die Beschäftigten der Firma Walther sollen dadurch sicher zur Kantine gelangen können, die auf der anderen Straßenseite liegt. In Heidenheim sagt die Verwaltung den Dauerparkern entlang der wichtigsten innerstädtischen Verbindungen den Kampf an: Geplant ist, an der Haupt-, Graben-, Brenz-, Olga-, Wilhelm- und Turnstraße 100 Parkuhren aufzustellen.
Großes Gefahrenpotenzial sehen die Verkehrsplaner beim „Bären-Café“ an der Alt-Ulmer-Straße. Nachdem sich dort zahlreiche Unfälle ereignet haben, bei denen sogar Menschen zu Tode kamen, beschließt der Gemeinderat, eine sogenannte "Ampel auf Signalanforderung" aufzustellen. Bedeutet: Der Verkehr auf der B 19 hat grundsätzlich freie Fahrt. Erst wenn Fußgänger einen am Signalmast angebrachten Knopf drücken, erhalten sie nach einer vorgegebenen Zeitspanne grünes Licht. Davon profitieren vor allem Voithianer auf dem Weg zur und von der Arbeit.
Schwertransport vom Voith-Gelände nach Mailand
Auch die regelmäßig vom Werksgelände rollenden Schwertransporte erfordern erhöhte Aufmerksamkeit. Einer davon macht sich am 19. August auf den Weg, um einen 70 Tonnen schweren Glättzylinder zum Stuttgarter Neckarhafen zu bringen. Von dort geht es zunächst per Lastkahn nach Rotterdam und anschließend an Bord eines Hochseeschiffs Richtung Venedig. Die Schlussetappe führt dann auf dem Landweg zu einer Zündholzfabrik bei Mailand.
Zündstoff birgt auch die wachsende Unsitte, Müll einfach in die Landschaft zu kippen. Obwohl Ordnungsstrafen von bis zu 1.000 Mark drohen, nimmt die Zahl der Fälle zu. Ein Mann wird dabei ertappt, wie er zwei Lastwagenladungen Unrat auf einer Schafweide ablädt. Es wird die Vermutung laut, mancher wolle auf diese Weise die Kosten für die Banderolen sparen, die für jede Leerung der Mülltonnen nötig sind.
Gärtnermeister Willi Vetter, der seit der Eröffnung 1954 für die Grünanlagen im Heidenheimer Waldbad zuständig ist, weiß ein Lied davon zu singen, dass der Abfall keineswegs nur im Schutz der Dunkelheit illegal entsorgt wird: Er trägt einen halben Lkw voller Dreck und Gerümpel zusammen, den 500 Badegäste an einem einzigen Tag auf der Anlage hinterlassen haben. Versteckt in einem Gebüsch findet er eine Tüte voller Küchenabfälle. „Wenn ich erwischt hätte, der da seine Müllgebühr einsparen wollte“, zetert Vetter, „dann wär` mir der Kragen geplatzt.“
Dabei soll Heidenheim doch eigentlich schöner werden, weshalb eine Blumenschmuck-Kommission in der gesamten Stadt die Gärten begutachtet. Auch in der Hansegisreute, wo neben dem Altenheim zahlreiche Einfamilien- und Reihenhäuser entstehen, wird auf ausreichend Grün geachtet. Kräftig gebaut wird zudem am Klassentrakt der Rauhbuchschule und am Gemeindezentrum auf dem Zanger Berg. Dort wächst das höchstgelegene Pfarrhaus Heidenheims heran.
Unterdessen brennt das Vereinsheim der Schnaitheimer Siedler und Kleingärtner in der Enggaß nieder. Die Feuerwehr kann es nicht vor den Flammen retten, obwohl sie rasch vor Ort ist. Um die Zeitspanne zwischen Alarmierung und Einsatz möglichst kurz zu halten, ertönen wie in Söhnstetten regelmäßig probeweise die Sirenen.
In Mergelstetten tun sie das am 1. August allerdings aus einem völlig anderen Grund: Auf dem Gelände der Wolldeckenfabrik Zoeppritz hupt und tutet es 15 Sekunden lang – weil die Farbenwerke Bayer in Leverkusen als größter Zulieferer ihr 100-jähriges Bestehen feiern.
Warum ausgerechnet 60 Jahre zurück?
Im Dezember 2008 war der Lokschuppen Schauplatz eines Festabends, bei dem eine seit 60 Jahren bestehende freie und unabhängige Presse in Heidenheim im Mittelpunkt stand. Damals mischten sich Aus- und Rückblicke. Unter anderem wurde die Idee geboren, regelmäßig in Erinnerung zu rufen, worüber die HZ jeweils 60 Jahre zuvor berichtet hatte. Die Serie startete mit der Rückschau auf 1949. Mittlerweile gilt das Augenmerk dem Jahr 1963.