Theaterring

Schrill und doppelbödig: "Corpus Delicti" regt im Heidenheimer Konzerthaus zum Nachdenken an

Im vollbesetzten Heidenheimer Konzerthaus zeigte die Württembergische Landesbühne Esslingen "Corpus Delicti" von Juli Zeh: Schrille Kostüme, schrilles Spiel, viel Musik und teilweise plakative Szenen waren zu sehen. Wie war die Inszenierung insgesamt? Eine Theaterkritik.

Schrill und doppelbödig: "Corpus Delicti" regt im Heidenheimer Konzerthaus zum Nachdenken an

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. So steht es in Artikel 2 des Grundgesetzes. Und es folgt der Satz „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. In Juli Zehs „Corpus Delicti“ wird aus dem Recht eine Pflicht, die Pflicht zur Gesundheit, und der Gesundheit zuliebe muss die Freiheit Abstriche machen. Das ist freilich noch eine sehr euphemistische Umschreibung dessen, was Juli Zeh in ihrer Dystopie zeichnet: Ein totalitärer Staat überwacht seine Bürger und bestraft alles, was die Gesundheit gefährdet, was nicht der Vorbeugung dient, der Körper wird zur Gesundheit versklavt.

Mit der Inszenierung von „Corpus Delicti“ gastierte die Württembergische Landesbühne Esslingen am Mittwochabend im Konzerthaus. Und es war voll, und das Publikum war ein sehr junges. Denn „Corpus Delicti“ gehört zur Schullektüre, und die Inszenierung der Jungen Bühne des Esslinger Theaters richtete sich vorrangig an die jungen Leser und Zuschauer. Und von diesen war am Ende auch sehr viel Begeisterung über die Inszenierung zu vernehmen.

Schrill und doppelbödig

Die Junge Bühne hatte dafür auch einiges getan: sehr schrille Kostüme, schrilles Spiel, viel Musik und zuweilen sehr plakative Szenen. Der schrillen Note der Inszenierung wohnte aber nicht nur augenfälliger Effekt inne, sie bot darüber hinaus auch eine Doppelbödigkeit: Sie mag zunächst dazu verführen, auf eine andere und so gar nicht dystopische Ebene zu leiten. Sie zeigt aber andererseits auch die Seiten eines totalitären Systems, in dem die komplette Überwachung in einer sehr konkreten Zielrichtung jegliche Eigenverantwortung abnimmt – und damit den Weg frei gibt, es sich in dieser Überwachung einzurichten, sich zu arrangieren, sich einzukuscheln, jedes Hinterfragen einzustellen.

„Achselzucken hat noch niemals Schaden angerichtet. Ideologien schon“, sagt so beispielsweise Juli Zehs Heldin Mia Holl, Biologin, und anfangs sehr überzeugt von dem System, die körperliche Gesundheit über alles zu stellen, zumal es sich als sehr effektiv erweist: Krankheiten sind mittlerweile völlig unbekannt geworden. Die anfängliche Überzeugung allerdings legt sich allmählich und immer mehr nachdem sie ins Visier des Staats gelangt und zur Staatsfeindin erklärt ist und sogar um ihr Leben fürchten muss.  Die Wandlung vollzieht sich nicht nur äußerlich, wenn Mia die den Mainstream darstellenden und daher staatskonformen Glitzerlook mit Jogginghose und Top tauscht, die falschen Locken zugunsten des natürlichen Haars abschüttelt und auch noch blutbesudelt am Pranger steht. Deutlich wird hier auch die innere Wandlung, wenn sie anfangs noch vage die Sinnfrage stellt und schließlich ganz bewusst und sehr bestimmt zur unbeugsamen Revolutionärin wird: Dass sie hier die Komponente der geistigen und seelischen Gesundheit über die der körperlichen stellt, diese Haltung nimmt man ihr vollkommen ab.

"Mittelalter ist die Natur des Menschen"

Und das sind auch die stärksten Momente der Inszenierung: Wenn die Figuren, vor allem Mia, alles Plakative verlieren und alles Schrille von ihnen abfällt, dann werden sie echt und ihre Handlungen authentisch. Und das geht nahe. Das hinterlässt Spuren. Und motiviert dazu, über die verschiedenen Aspekte des Stückes zu reflektieren. Und da gibt es viele: Das totalitäre System wird veranschaulicht, das damit einhergehende Denunziantentum ebenso, die Frage, womit dem Wohl der Gesellschaft mehr gedient ist, mit Ein- oder Unterordnung oder aber Auflehnung, aber auch die Problematik der Ausgrenzung („Mittelalter ist die Natur des Menschen“), und durchaus auch die Frage der Definition von Gesundheit. Dabei kann durchaus auch der Gedanke der Selbstoptimierung auftauchen, die ja mehr und mehr auf Äußerlichkeiten bezogen wird.

Das Bühnenbild beschränkt sich auf Andeutungen, und das ist der Handlung sehr zuträglich. Gerade das mobile Bühnenelement, das immer wieder erklommen werden muss, ist bestens geeignet, hier immer wieder ein Oben und Unten darzustellen. Ob die Grellheit, die gerade im ersten Teil der Inszenierung vorherrscht, wirklich sein muss, darüber lässt sich streiten. Das ist sicher Geschmackssache und vermutlich eine Konzession an ein junges Publikum. Ob gerade diesem jungen Publikum das Lied „Freedom“ von George Michael, das immerhin auch schon gut 30 Jahre auf dem Buckel hat, überhaupt bekannt ist, darf auch in Frage gestellt werden. Freilich verlieh es – neben anderen Musikstücken – der Inszenierung leichtgängigen Schmiss, wenngleich dessen Einsatz als Plädoyer von Mias Verteidiger im Prozess doch einen Bruch darstellte: Geradezu ironisch kam der plötzlich Sing- und Tanzauftritt daher, und das fügte sich nicht in den Gesamtton der Inszenierung ein. Freilich: Ein Loblied auf die Freiheit kann andererseits nicht oft genug angestimmt werden.

Vom Theaterstück zum Roman

Weit vor Corona hat Autorin und Juristin Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, das Thema Gesundheit für "Corpus Delicti" aufgegriffen. Es entstand ursprünglich als Theaterstück im Auftrag der Ruhr-Triennale und wurde 2007 uraufgeführt. Der Roman erschien im Jahr 2009. Das Theaterstück und der Roman warnen den Leser vor kritischen Entwicklungen der heutigen Gesellschaft und appelliert an seine Mündigkeit und Eigenverantwortung.

Juli Zeh gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern der Gegenwart.

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