„Fremde Welten“ lautet heuer das Spielzeitmotto der Opernfestspiele, und man ist inzwischen schon einigermaßen herumgekommen auf dieser Entdeckungstour. Am Sonntag nun, beim Galakonzert, machte der Musikdampfer in der Neuen Welt fest. Neue Welt. Auch schon ganz schön alt, dieser Terminus. Hat man nicht hierzulande inzwischen so ziemlich alles übernommen, was zumindest aus dem Norden dieser Welt zu uns herübergeschwappt ist? Kennt man die einst Neue Welt aus zahllosen Kinofilmen oder Fernsehserien nicht eigentlich schon besser als die Zustände und Vorgänge vor der eigenen Haustür? Hat man die Skyline von New York nicht deutlicher vor Augen als den Stuttgarter Fernsehturm?
Das mag schon sein. Vermeintlich. Dennoch hat man hier nach wie vor kaum eine Ahnung davon, wie Amerika tatsächlich tickt. Und wahrscheinlich hat auch noch kaum einer zum Beispiel George Gershwins Klavierkonzert in F-Dur gehört. Bis Sonntag. Da erschloss die wieder einmal famose Cappella Aquileia diese neue Welt in Heidenheim. Unter spektakulärer Mithilfe eines faszinierenden Pianisten: Frank Dupree.
Der Groove
Der Mann ist übrigens aus dem eher beschaulichen Rastatt in die große weite Welt der Tastenlöwen hinausgezogen. Und bei der Gelegenheit lehrt er diese vor allen Dingen zu grooven. Das funktioniert übrigens nicht nur bei Gershwin, auch wenn es da vergleichsweise etwas weniger auffällt, obgleich es auch hier, was die Interpretationen anbelangt, eben auch nicht so selbstverständlich ist, wie man vielleicht meinen könnte.
Jedenfalls fuhr der Pianist mit diesem virtuosen und kompositorisch grandios in Szene gesetzten Meisterstück regelrecht Schlitten. Und Frank Dupree verfügt über alles, was es dazu braucht. Plus den Groove eben, der seiner technischen Beschlagenheit plus der von ihm regelrecht mitreißend an den Tag gelegten überschäumenden Spielfreude dann noch die Krone aufsetzt. Die Cappella unter Marcus Bosch, auch wenn sie den Solisten am bekanntlich mit anderen Tugenden als reiner Kraftmeierei gesegneten Festspielhaus-Steinway im Tutti mitunter zudeckte, ging da kongenial mit.
Die Zugabe
Den Gershwin, den man vermeintlich zu kennen glaubt und für einen vor allem mit amerikanischen Wassern gewaschenen Unterhaltungsmusiker hält, hatte man zuvor übrigens auch präsentiert bekommen, und zwar mit der Ouvertüre zum Musical „Girl Crazy“, in der die sattsam allbekannte Überlegung eine Rolle spielt, ob es nicht eigentlich völlig ausreicht, Rhythmus und Musik zu haben.
Und dass das in der Tat schon eine beträchtliche Menge ist, wenn man es denn auch wirklich hat, bewiesen, als Zugabe zum ersten Teil, ein pianierender und trommelnder Frank Dupree und die Schlagwerkfraktion der Cappella mit einer Musik, die jedem, nicht zuletzt womöglich aus Zirkusbesuchen in alten Zeiten her, bekannt gewesen sein dürfte, deren Titel und Komponist man hingegen dennoch erfragen musste. Es war „Caravan“ von Duke Ellington und haute so richtig rein.
Der Moment
Nach der Pause dann: Die Neue Welt, die kaum einem Konzertgänger nicht wirklich bekannt wäre: Antonín Dvořáks Neunte, die Sinfonie „Aus der Neuen Welt“. Noch ein Meisterwerk, eines, das trotz aller Bekanntheit dennoch immer noch sehr überraschen kann. Was nicht zuletzt daran liegt, dass sich die Interpreten, wenigstens was die ersten beiden Sätze der Sinfonie betrifft, seit jeher höchst uneins sind, was das anzuschlagende Tempo anbelangt. Nicht nur untereinander. Sogar, was die Sache noch spannender macht, uneins mit sich selbst.
So wie Marcus Bosch, der diesmal das am Beginn stehende Adagio, in dem Dvořák seine überragende Satztechnik vorführt, indem er das Hauptthema und die beiden Seitenthemen – von denen das zweite das Spiritual „Swing Low, Sweet Chariot“ mit Betonung auf die Noten fürs Substantiv zitiert –, ob verkürzt oder verschlungen, in atemberaubender Weise durchdekliniert, im Banne des Live-Moments deutlich rascher nimmt, als man das von ihm sonst schon gehört hat. Und man merkt: Hier entsteht Musik, hier wird nicht bloß welche gemacht.
Der Sound
Auch für die drei übrigen Sätze gilt das. Das Largo mit der melancholischen Weise des Englischhorns, auf die jeder wartet und die bei unzähligen Filmmusiken etwa Pate gestanden hat, klingt bei Bosch und der Cappella wie ein fast unmerkliches, schwereloses Schreiten knapp über einer Oberfläche, unter der es gleichsam brodelt, nicht bedrohlich, sondern auf eine schwer zu bestimmende Art emotional. Der Getragenheit lässt Bosch dabei freilich nicht die Zügel schießen. Leonard Bernstein etwa hat live, für dieselbe Anzahl von Noten und auf eine ganz andere Weise elektrisierend, durchaus schon mal gut sechs Minuten länger gebraucht.
Sagen wir es deshalb mal so: So wie Marcus Bosch und die an allen Pulten fabelhafte Cappella, deren Sound man sich streckenweise regelrecht auf der Zunge zergehen lassen kann und die auch im Detail steckende Finessen hörbar werden lässt, die sonst im Großen und Ganzen untergebuttert und demzufolge ungehört im Großen und Ganzen untergehen zu pflegen, Dvořák spielen, kann man ihn nicht besser spielen. Höchstens anders.
Und die Diskussion, was amerikanisch an der Neunten ist und was nicht, lassen wir heute einfach mal weg. Nur so viel dazu: Wer ganz genau hinhört, hört auch diesmal ganz am Ende, dass Dvořák, wo er gerade ohnehin schon so gut dabei war, den Rock ‚n‘ Roll gleich mit erfunden hat.
So geht's weiter bei den Opernfestspielen
Weiter geht’s bei den Opernfestspielen am Donnerstag, 25. Juli, ab 20 Uhr im Rittersaal auf Schloss Hellenstein oder im Festspielhaus mit der ersten „Last Night“. „Fernweh“ lautet das Motto, bei der auch die Operette nicht zu kurz kommen soll. Wettertelefon ab 18 Uhr: 07321.327-4220. Eintrittskarten sind im Pressehaus, detaillierte Programminformationen unter www.opernfestspiele.de erhältlich. Sollte das Konzert mit den Stuttgarter Philharmonikern bei ungünstiger Witterung im Festspielhaus stattfinden, würde es dort noch 80 Schlechtwetterkarten an der Abendkasse geben.