Wenn’s gut läuft, liegen sechs Stunden Autofahrt zwischen Heidenheim und Bremen. Aber ist der wahre Abstand nicht viel größer? Hier die Berge zum Greifen nah, dort die Nordsee ein paar Steinwürfe entfernt – die Distanz muss doch mehr sein als die Summe von ein paar Zeigerumdrehungen und Kilometern. Nachgefragt bei einem, der es wissen muss: Dr. Martin Zinkler. Im Sommer 2021 ist der ehemalige Chefarzt der Heidenheimer Psychiatrie nach Bremen gezogen, wo er seither in gleicher Funktion am Klinikum Ost tätig ist.
Ein Süddeutscher – Zinkler ist in Augsburg geboren – unter Nordlichtern also. Funktioniert das? Wie schaut’s zum Beispiel kulinarisch aus? Pannfisch und Labskaus? Oder Spätzle und Maultaschen? „Eher Schweinebraten“, wählt Zinkler eine dritte Variante, „in der Hinsicht bin ich meiner bayerischen Heimat treu geblieben.“ Und landschaftlich? „Ich mag lieber Hügel und Täler als flaches Land und Deiche“, sagt Zinkler, „insofern war’s am Anfang schon gewöhnungsbedürftig.“
Schnell in Bremen eingelebt
Zum Fremdeln blieb allerdings kaum Zeit, denn an der Weser ging es unverzüglich mit der Arbeit weiter, nachdem sie an der Brenz geendet hatte. Außerdem brachten der heute 58-Jährige und seine Frau Johanna Bauer, die ehemalige Geschäftsführerin des Vereins Kinder und Kunst, einschlägige Erfahrung mit, hatten sie zuvor doch schon einige Male ihren Lebensmittelpunkt gewechselt, unter anderem in London gelebt.
Ohnehin hängt für Zinkler die Wahrnehmung von Unterschieden häufig mit Vorurteilen zusammen. Und das Klischee der unterkühlten Norddeutschen sieht er ebenso wenig bestätigt wie das des provinziellen Kaffs Heidenheim: „Kulturell, insbesondere was Musik angeht, ist in Heidenheim wirklich jede Menge geboten, und in Sachen Oper geben sich Heidenheim und Bremen überhaupt nichts.“ Die wöchentlichen Musikproben mit dem Städtischen Blasorchester unter Leitung von Jürgen Degeler vermisste Zinkler nach dem Umzug zunächst, mittlerweile hat er sich jedoch einer anderen Formation angeschlossen. Allerdings spielt er jetzt nicht mehr Bassklarinette, sondern Baritonsaxofon.
Heidenheims Überschaubarkeit geschätzt
An Heidenheim schätzte Zinkler nicht zuletzt die Überschaubarkeit: die Langlaufloipe gleich hinterm Haus im Mittelrain, den Einkauf auf dem Wochenmarkt. Obwohl Bremen gut elfmal so viele Einwohner hat, ist viel geblieben von dieser Übersichtlichkeit, und von der Wohnung im Viertel genannten Stadtteil aus lassen sich Theater, Kinos und Gaststätten problemlos zu Fuß erreichen. Deutlich wird daran, weshalb die Bremer selber von der „kleinstmöglichen Großstadt“ sprechen.
In Heidenheim saß Zinkler zwei Jahre lang für die SPD im Gemeinderat. Angesichts seiner zeitlichen Belastung hat er momentan keine Ambitionen auf ein vergleichbares Mandat in Bremen. Eine gute Vernetzung mit den politischen Entscheidungsträgern pflegt er mit Blick auf berufliche Belange trotzdem, und sein Parteibuch besitzt er nach wie vor.
Weiterhin Kontakte zum Heidenheimer Klinikum
Manche Kontakte auf die Schwäbische Alb sind mittlerweile eingeschlafen, sagt Zinkler, andere Freundschaften pflegen er und seine Frau nach wie vor. Auch auf der Arbeitsebene gibt es regelmäßige Beziehungen, wobei sich beim Vergleich der Häuser ein deutlicher Größenunterschied auftut: Das Klinikum Bremen Ost gehört zu einem Verbund von vier Krankenhäusern, jedes einzelne so groß wie das Heidenheimer Klinikum.
Zinkler hat in der Freien Hansestadt ein Modellprojekt etabliert, das er zuvor schon auf dem deutlich überschaubareren Schlossberg umsetzte. Seit Beginn dieses Jahres gibt es ein mit den Krankenkassen vereinbartes Regionalbudget. Kassenleistungen für den Bereich der Psychiatrie können jetzt freier eingesetzt werden. Je nach Bedarf sind die Versorgungsformen Station, Tagesklinik und Home Treatment (Behandlung im eigenen Wohnumfeld) möglich. In der Psychiatrie ist Zinkler zufolge die Abrechnung nach Betten nicht mehr sinnvoll, weil der Schwerpunkt von der stationären hin zur ambulanten Behandlung verlagert werden soll.
Ein unverändert großes Anliegen ist ihm auch, mit möglichst wenigen Zwangsmaßnahmen und Medikamenten auszukommen. Ein Grundsatz, der in Heidenheim nicht die vorbehaltlose Zustimmung aller Akteure fand, dem 58-Jährigen gleichwohl den Ruf eines Vorkämpfers gewaltfreier Psychiatrie verschaffte.
Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht, der Bundestag, der Deutsche Ethikrat und der Europarat bedienten sich bereits seiner Expertise. Aktuell ist er ehrenamtlich für die Vereinten Nationen (UN) im Einsatz. Hintergrund: 1984 verabschiedete die UN-Generalversammlung die mittlerweile von mehr als 170 Staaten ratifizierte Antifolterkonvention, ein Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. „Viele haben unterschrieben“, sagt Zinkler, „aber längst nicht alle lassen sich in die Karten schauen.“
Ergänzt wurde die Konvention deshalb durch das 2006 in Kraft getretene Zusatzprotokoll Opcat. Auf dieser Grundlage kann der international besetzte Unterausschuss zur Verhütung von Folter, dem neben Zinkler weitere zwei Dutzend Personen angehören, in aktuell 93 Staaten Einrichtungen des Freiheitsentzugs besuchen und auf die Einhaltung der Menschenrechte hin unter die Lupe nehmen. Unangemeldeten Besuch erhalten beispielsweise Gefängnisse, Polizeistationen und psychiatrische Krankenhäuser. Im Dezember begutachtete Zinkler Haftorte auf den Philippinen und machte die Erfahrung, dass sich den Inspekteuren problemlos alle Türen öffneten. Seine Bewertung: „Papier ist geduldig, aber das Zusatzprotokoll verschafft der Konvention Zähne.“
Zurück in Deutschland, stellt sich die Frage, mit wem es Zinkler hält, wenn Werder am 10. Februar erstmals in der Geschichte der Fußball-Bundesliga ein Heimspiel gegen den FCH bestreitet. „Ich werde wohl den Bremern die Daumen drücken“, sagt er nach kurzem Überlegen, um dann schnell diplomatisch nachzuschieben: „Aber ich würde mich auch über ein Unentschieden oder einen Sieg für Heidenheim freuen.“
Von London über Heidenheim nach Bremen
Martin Zinkler wurde in Augsburg geboren, ist verheiratet und Vater eines Sohnes. Er studierte in Regensburg und München. Es folgten berufliche Stationen in München, Kaufbeuren, London und Heidenheim, wo er von 2009 bis 2021 als Chefarzt tätig war.