Wie im Mai 1922 die WCM in Heidenheim in Schutt und Asche gelegt wurde
Industriehallen, Handwerksbetriebe, Lagerräume, Wohnungen, Künstlerateliers, Parkplätze: Das südliche WCM-Gelände in Heidenheim hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Momentan entwickelt es sich zum Hochschulstandort. Niemand mehr wird sich heute aus eigener Anschauung daran erinnern, dass sich dort einst eine Katastrophe ereignete: In der Nacht zum 17. Mai 1922 zerstörte ein Feuer die Württembergische Cattunmanufaktur (WCM).
Als das Inferno am Abend des 16. Mai 1922 losbricht, sind die meisten längst im Feierabend. Es ist 21.30 Uhr, und plötzlich steht die Rauherei der WCM im Norden der Heidenheimer Innenstadt in Flammen. Niemand kann zu diesem Zeitpunkt sagen, was die Katastrophe ausgelöst hat. Klar ist jedoch schnell: Kein Unglück hat bis dahin an der Brenz auch nur annähernd einen derart hohen Schaden verursacht. Von 100 Millionen Mark ist schon bald die Rede, später werden daraus 140 Millionen.
Die Feuerwehr ist zwar binnen Kurzem vor Ort, aber es will ihr zunächst nicht gelingen, den Brand einzudämmen. Einen Grund dafür nennt der „Grenzbote“ in seiner anderntags erscheinenden Ausgabe: „Am ganzen östlichen und südlichen Himmel standen Gewitter, ein starker Wind wehte von Süden her.“ Das Feuer findet vor Ort nicht nur genügend Nahrung, es wird auch ständig von Neuem angefacht und greift durch einen Verbindungssteg über auf Färberei und Druckerei, Dampfboden und Zylindersaal, Bleiche, Schersaal und neue Appretur.
„Die ganzen Gebäude bildeten ein riesiges Feuermeer, in das der Sturmwind hineinblies“, fließt es aus der Feder des Berichterstatters. Er ist offenbar genauso schockiert wie Tausende von Schaulustigen, die die Fabriksirenen an den Ort des Geschehens rufen. Gegen 22 Uhr geht ein kurzer Regenschauer nieder. Auch er vermag die Lage nicht zu entschärfen, feuchtet lediglich den Boden an und hemmt den Funkenflug etwas. Eine Viertelstunde später stürzt der Turm über dem Fabrikgelände ein. Das Feuer hat sich zu diesem Zeitpunkt auf der Westseite schon bis zum Eisenbahngelände gefressen. Gleichzeitig verleibt es sich im Lager Farben, Öle, Lacke und Tuche ein.
Kurz nach 23 Uhr bricht das alte Fachwerkgebäude in sich zusammen. Jetzt sind trotz aller Gegenwehr auch das Kesselhaus und das Elektrizitätswerk des Unternehmens nicht mehr zu retten. „Die Rauch- und Glutschwaden hatten es der wacker arbeitenden Feuerwehr unmöglich gemacht, von der Straße aus die nördlich gelegenen Gebäude zu schützen“, wird der „Grenzbote“ später berichten. „Aber wirksam hatten die Mannschaften das Feuer nach Süden begrenzt, so dass es die alte Appretur und das Verwaltungsgebäude mit dem Weißwarenlager nicht ergriff.“
Vom Hauptkontorgebäude aus richten sich acht Wasserrohre auf die Flammen, gegen 23.30 Uhr trifft außerdem Verstärkung aus Aalen ein. Jetzt zeigen die Bemühungen der Wehren endlich Wirkung: „Es war gegen Mitternacht glücklicherweise endgültig erreicht, dass die Macht des Feuers nachließ“, ist im „Grenzboten“ zu lesen. Hinzu kommt, dass der Wind, der die Flammen zuvor rasend schnell um sich greifen ließ, an Stärke verliert. Bis 2 Uhr dauern die Löscharbeiten an. Dann achtet eine Brandwache darauf, dass das Feuer nicht von Neuem aufflammt.
Als sich der Morgen des 17. Mai aus der Tragödie der vorhergehenden Nacht schält, zeigt sich die immense Zerstörung. Unversehrt geblieben sind lediglich die alte Appretur, das südliche Portierhaus, das Hauptkontor und die Kessel. Drum herum liegt nahezu alles in Schutt und Asche. „Der Schaden ist infolge Vernichtung sämtlicher Fabrikationsräume und der darin befindlichen Maschinen sowie der Rohstoffe und Waren ein ganz außerordentlich großer“, bleibt die Presse zunächst noch im Vagen. „Dem mit Heidenheim verwachsenen Unternehmen wird allseits bei dem Unglück herzliche Anteilnahme entgegengebracht“, versucht die Zeitung etwas ungelenk die lähmende Sprachlosigkeit auf einen angemessenen Nenner zu bringen.
Eine erste konkrete Summe nennt dann am Folgetag Oberbürgermeister Eugen Jaekle. Er spricht von besagten 100 Millionen Mark. Dem Hinweis auf die voraussichtlichen Folgen für die wirtschaftliche Lage der gesamten Stadt lässt der Rathauschef einen besorgten Blick auf die Lage der Beschäftigten folgen. Er sieht sie auf lange Zeit ihrer Verdienstmöglichkeiten beraubt und hält es deshalb für seine Pflicht, im Rahmen seiner Möglichkeiten mit einem Appell an die Verantwortlichen auf ein Ende des laufenden Metallarbeiterstreiks hinzuwirken.
Der WCM-Betriebsrat seinerseits lädt die gesamte Arbeiterschaft zu einer Betriebsversammlung ein, die bereits am 17. Mai um 17 Uhr im „Felsen“ beginnt. Ergebnis der Sitzung: Die Stadtgemeinde soll ersucht werden, Notstandsarbeiten bereitzustellen. Und an die Adresse des Industrievereins richtet sich die Bitte, insbesondere Arbeiterinnen einzustellen. Die Geschäftsleitung der WCM sagt unterdessen zu, die größtmögliche Zahl an Arbeiterinnen und Arbeitern zu beschäftigen „und alles zu tun, um zur Linderung entstehender Not beizutragen“.
Derweil beginnt die Beseitigung der Trümmer. Ein 20-jähriger Arbeiter zieht sich dabei schwere Verletzungen zu: Er erleidet einen komplizierten Oberschenkelbruch, als ein Mast umstürzt, auf den er gestiegen ist, um elektrische Leitungen abzumontieren. Selbst eine Woche nach der Brandnacht erfordern immer noch glühend heiße Eisenträger, Balken und Röhren große Vorsicht bei den Aufräumarbeiten.
Das Internet ist zu diesem Zeitpunkt noch in weiter Ferne, eine Live-Berichterstattung vom Schauplatz des Geschehens Zukunftsmusik. Wer sich nicht vor Ort einen unmittelbaren Eindruck verschafft, ist deshalb auf die Fotos angewiesen, die im Schaukasten an der Geschäftsstelle des „Grenzboten“ zu sehen sind – aufgenommen von „R. Vogelg´sang, Spezialgeschäft für photographische Artikel“.
WCM: einst größter Arbeitgeber Heidenheims
Die ersten mechanischen Webstühle Deutschlands standen in der 1828 gegründeten Fabrik von Johann Gottlieb Meebold, in der Baumwollstoffe – Cattun – hergestellt wurden. 1856 wurde sie umgewandelt in die Württembergische Cattunmanufaktur (WCM). Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Aktiengesellschaft zu einer bedeutenden Stoffdruckerei und zum größten Arbeitgeber der Stadt entwickelt. 1966 stellte die WCM angesichts des wachsenden Wettbewerbs in der Branche und aufgrund großer Konkurrenz aus dem Ausland ihre Produktion in Heidenheim ein. Das Management verlegte sich fortan auf Vermietung und Verwaltung des Grundbesitzes.