Gerüchte und Hoffnung

Wie Medien über den Mord an Maria Bögerl berichteten

Vor zehn Jahren wurde Maria Bögerl aus ihrem Haus in Schnaitheim entführt. Nach Wochen fand man ihre Leiche im Wald. Bis heute konnte der Mord nicht aufgeklärt werden, obwohl dieser Kriminalfall wie kaum ein anderer im Licht der Öffentlichkeit stand. Ein Rückblick auf die Berichterstattung.

Wie Medien über den Mord an Maria Bögerl berichteten

Es war Mittwoch, der Tag vor Christi Himmelfahrt. Üblicherweise haben Zeitungsjournalisten vor Feiertagen, an denen es keine aktuelle Ausgabe gibt, „redaktionsfrei“ – so auch bei den Heidenheimer Tageszeitungen. Doch an diesem ruhigen, sonnigen Nachmittag sollte alles anders kommen: Plötzlich klingeln die Telefone Sturm. Im E-Mail-Postfach der Redaktion eine Flut an Fotos von Polizeibussen und Spezialkräften, zig Leser-Anfragen, was denn los sei.

Das Aufgebot an Einsatzkräften ist auch kaum zu übersehen, die Öffentlichkeit beunruhigt. Erst nach einigen Stunden bestätigt die Pressestelle der Polizei endlich: Ja, es handle sich um eine Entführung. Weitere Details gibt es – wie üblich aus „ermittlungstaktischen Gründen“ – nicht. Nach der Eilmeldung auf der Homepage dieser Zeitung brechen die Server zusammen – wegen Überlastung aufgrund des enormen öffentlichen Interesses.

Am Morgen dieses Mittwochs ist Maria Bögerl, Ehefrau des Heidenheimer Sparkassenchefs Thomas Bögerl, aus ihrem Haus in Schnaitheim entführt worden. Nachdem die Lösegeldübergabe gescheitert ist und die geforderten 300 000 Euro an einer mit einer Deutschlandflagge markierten Stelle an der Autobahn 7 nicht abgeholt worden sind, zieht die Polizei alle verfügbaren Kräfte zusammen. Rund 300 Beamtinnen und Beamte sowie 50 Polizeihunde beginnen mit der Suche. Bis heute vergebens.

Enormes Medieninteresse

Mehrere Rundfunk- und Fernsehanstalten sowie Vertreter von Printmedien drängen sich im kleinen Nietheim und ums Wohnhaus der Bögerls. Wochenmagazine wie „Spiegel“ und „Stern“ bemühen sich ebenso um aktuelle Informationen wie eine große Zahl überregionaler Tageszeitungen und TV-Sender. Bei einer Pressekonferenz am Abend des folgenden Donnerstags wenden sich die Ermittler schließlich mit Details an die Öffentlichkeit: Gesucht wird der schwarze Mercedes der damals 54-Jährigen. Man setzt auf Zeugenhinweise. Noch haben die Ermittler Hoffnung, Maria Bögerl unversehrt zu befreien. Die allergrößte Sorge ist noch, dass sich die Entführte in einer misslichen Lage befinden könnte.

Auch am Freitag geht die Suche rund um den Geldübergabeort weiter. Während dichte graue Regenwolken überm Härtsfeld hängen und das Thermometer sieben Grad anzeigt, wird der Wald buchstäblich durchkämmt. Inzwischen mehr als 500 Einsatzkräfte schieben mit Stangen und Stecken das Unterholz beiseite, um Spuren oder Hinweise zu finden. Die Rettungshunde, inzwischen sind es rund 100, winseln aufgeregt – neugierig beäugt von den Journalisten mit ihren Teleobjektiven und Mikrofonen.

Gerüchte in Boulevardmedien

Nun wendet sich auch die Familie schriftlich in einem öffentlichen Appell an den Entführer, der vielfach abfgedruckt wird: „Bitte geben Sie ein Zeichen.“ Doch dazu kommt es nicht. Der Anrufer, der sich am Tag der Entführung bei Thomas Bögerl als „Schmid“ vorgestellt und davor gewarnt hatte, „Sperenzla zu macha“, meldet sich nie wieder.

Am Freitagabend wird der schwarze Mercedes Maria Bögerls im Hof des Klosters Neresheim gefunden. Wieder drängen sich Dutzende Medienvertreter um den Polizeisprecher, der die A-Klasse bei einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz zeigt, während ein Beamter in Schutzmontur darin Spuren sichert. In der Zwischenzeit schlachten freilich auch Boulevardmedien den Fall aus, Nachbarn der Bögerls und Sparkassen-Mitarbeiter werden bedrängt, die Bäckereifrauen um die Ecke nach ihrer Einschätzung befragt. Wildeste Spekulationen und böse Mutmaßungen machen die Runde.

Das Interesse der Öffentlichkeit spielt dennoch ins Konzept der inzwischen gegründeten „Soko Flagge“: Genau eine Woche nach der Entführung zählt der Einsatzstab mehr als 1000 Hinweise aus der Bevölkerung. Gottesdienste werden abgehalten und Zehntausende Zettel an die Menschen in den umliegenden Gemeinden verteilt. Die Anteilnahme ist enorm.

Hoffnung auf „XY … ungelöst”

Hinweise von Hellsehern und Parapsychologen aus aller Welt müssen gefiltert werden, doch man setzt weiter auf die Öffentlichkeit: Den ersten entscheidenden Durchbruch erhofft man sich mit der Ausstrahlung von „Aktenzeichen XY … ungelöst“ nur eine Woche nach der Entführung. Darin flehen Vater, Tochter und Sohn unter Tränen um das Leben von Maria Bögerl. Beim ZDF spricht man nach der Sendung von einem Rekord. Der Beitrag erreicht mit 6,46 Millionen Zuschauern die höchste Einschaltquote seit 1999. Unterdessen versucht der Giengener Rapper „Assi Nash“ seine Gedanken in einem YouTube-Video in Worte zu fassen – und wendet sich mit einem Song an den Täter.

Während die „Soko „Flagge“ weiter Hinweisen nachgeht, kommt der Entführungsfall auf politischer Ebene an und sorgt auch hier bundesweit für Interesse: Justizminister Ulrich Goll erläutert am Rande der „Karlsruher Verfassungsgespräche“, dass die Heidenheimer Ermittler auf Schwierigkeiten gestoßen seien, relevante Telefonverbindungsdaten von einer Telekommunikationsfirma rasch zu erhalten. Dies stellt sich später als falsch heraus.

Kritik an der Polizei wächst

Den Ermittlern werden mittlerweile immer mehr Vorwürfe gemacht: Die Polizei war am Tag der Entführung mit Zivil- und Einsatzfahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn Richtung Heidenheim gerast: „Ein taktischer Fehler“, wie der Freiburger Kriminalpsychologe Prof. Helmut Kury zitiert wird. Dadurch seien die Kidnapper möglicherweise schon vor der Geldübergabe gewarnt worden. Während der Druck auf die Ermittler wächst, schwindet die Hoffnung. 23 Tage nach der Entführung findet ein Spaziergänger den mit Messerstichen übersäten Körper Maria Bögerls in einem Wald bei Niesitz, unweit der Geldübergabestelle.

Erneut setzen die Ermittler auf die Sendung „XY … ungelöst“, in der Soko-Leiter Hartmut Schröppel sich dafür entschuldigt, dass man die Tote, die sich unter einem Reisighaufen befand, bei der Suche möglicherweise übersehen hatte. Ungehemmt befeuern unterdessen das Boulevardblatt „Bild“ und die Wochenmagazine „Stern“, „Focus“ und „Spiegel“ weitere Spekulationen: „Tuschel-Gerüchte der Nachbarn“, „Knipste ein Satellit den Killer?“, „Hat ein Rocker die Bankiersgattin getötet?“, lauten die teils skurrilen Überschriften.

„Da schreibt einer einen Satz, der mit einem Fragezeichen endet, und der nächste schreibt es ab und lässt das Fragezeichen weg“, kritisiert der damalige Polizeisprecher Horst Baur in einem Interview mit dieser Zeitung die bisweilen reißerische Berichterstattung mancher Medien.

Maulwurf unter den Ermittlern?

20 000 Euro sind inzwischen für Tipps ausgesetzt, einen Monat nach der Entführung gibt es mehr als 3400 Hinweise. Im Zuge der Ermittlungen fällt auf, dass überregionale Medien über Informationen verfügten, die nur polizeiintern verwendet werden durften. Daraufhin ermittelt die Polizei in den eigenen Reihen. Um den Fall wird es zunächst immer stiller, Fortschritte gibt es kaum.

Ein Jahr nach den Ereignissen sorgt der Selbstmord Thomas Bögerls dann erneut für Schlagzeilen. Gerüchte über das Privatleben und die angebliche Beteiligung der Familie bleiben nicht unerwähnt. Solche Hinweise hätten sich bei den Ermittlungen nicht erhärten lassen, halten die Behörden dagegen.

Im Februar 2012 melden sich die beiden Kinder der Bögerls im Magazin „Stern“ zu Wort und sparen in diesem Zusammenhang nicht an Kritik an der Polizei. So wird die Tochter wie folgt zitiert: „Das Ausmaß an Pannen hat unser Vertrauen zerstört. Die Instanz, die dazu da ist, dir zu helfen, macht tausend Fehler und versinkt in planlosem Aktionismus.“ Im Herbst widmet sich nun zum dritten Mal „Aktenzeichen XY … ungelöst“ dem Fall, 9000 Hinweise zählt man bis dato – jede vermeintliche Spur verläuft im Sande.

Immer wieder in den Medien

Doch auch ohne Ermittlungserfolge bleibt der Fall in den Medien präsent: Im Sommer 2013 wehrt sich der in Verdacht geratene Freund der Tochter gegen die Überwachung seiner Internetverbindung. Sein Anwalt legt Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein.

Im Herbst wird ein damals 40-jähriger Giengener zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Familienvater hatte es auf die Belohnung abgesehen und die Ermittler in die Irre geführt. Außerdem sorgen Massengentests, die es bis dahin in der Bundesrepublik noch nie in solchem Ausmaß gegeben hatte, für überregionales Medieninteresse.

Sieben Jahre nach dem Mord widmet sich „XY“ ein viertes Mal dem Fall. Gleichzeitig nimmt die Fahndung nach dem Täter noch einmal volle Fahrt auf: Die Polizei sucht erneut mit Phantombild und einer Tonaufnahme nach einem Mann, der sagt, dass er aus Ochsenberg komme. Die bereits vor der Sendung erfolgte Festnahme führt ins Nichts, der DNA-Abgleich verläuft negativ.

Vorlage für Krimi im NDR

Im November 2017 ist der Mord an Maria Bögerl dann Vorlage für eine Folge des NDR-„Tatorts“. Bei „Der Fall Holdt“ wird in einer niedersächsischen Kleinstadt die Frau eines Bankiers entführt. In Panik bittet der seine Schwiegereltern um Hilfe, denn er kann das Lösegeld nicht allein aufbringen. Authentizität sei nicht vorgesehen: Die Handlung ist laut Produzentin Kerstin Ramcke deutlich verändert. Die Erstausstrahlung erreicht in Deutschland mehr als zehn Millionen Zuschauer.

In der Zwischenzeit hat die Soko, die mittlerweile aus zwei Beamten besteht, mehr als 10 000 Hinweise erhalten. Im Januar 2020 keimt erneut Hoffnung auf, den Fall endlich aufzuklären: Drei Personen werden ins Visier genommen, drei Hausdurchsuchungen bei Schwäbisch Hall und im Landkreis Donau-Ries bringen allerdings keine Beweise ans Licht, der Tatverdacht kann nicht erhärtet werden.

Wieder wird der Fall in den Medien in Erinnerung gerufen und noch einmal ausführlich daran erinnert, dass auch der Mord an Maria Bögerl niemals verjähren wird. Der „Spiegel“ zitiert Ende Mai einen der beiden Ermittler: „Es bleibt eine offene Wunde.“ Nach wie vor sei die Staatsanwaltschaft Ellwangen für sachdienliche Hinweise und Informationen dankbar.