Reintritt frei

Wie sich in Heidenheim ein Kunstwerk verändert

Im Heidenheimer Kunstmuseum dürfen Besucher in ein Kunstwerk eingreifen. Was sich acht Wochen nach Ausstellungsbeginn getan hat.

Den Eintritt kennt jeder. Manchmal ist er frei, meist jedoch ist er mit einem Obolus verbunden. Treten Sie ein, lautet sodann die Aufforderung – und im Handumdrehen ist man – in unserem Falle jetzt: im Kunstmuseum. Hier wird’s sogleich spannend. Denn es eröffnet sich tatsächlich die Möglichkeit zu einem Reintritt. Zwar fehlt in diesem Fall die explizite Einladung, doch bitte reinzutreten. Aber es ist, für ein Museum selbst in modernen Zeiten eher ungewöhnlich, bei der momentan im Kunstmuseum präsentierten Ausstellung tatsächlich erlaubt, ein Kunstwerk zu betreten.

„Kristallisationspunkte“ heißt die Schau, „Salz und Zucker in der Kunst“ lautet ihr Untertitel. Und seit knapp acht Wochen lockt sie Menschen ins Heidenheimer Kunstmuseum. Dessen Direktor Marco Hompes ist jedenfalls sehr zufrieden. „Sowohl mit der Resonanz, als auch mit der Akzeptanz.“ Hompes hat es sogar vielfach schriftlich, dass die Ausstellung ankommt. Im Gästebuch mangelt es nicht an regelrechten Lobeshymnen von Besuchern.

Und was hat es mit dem Reintritt auf sich? Dazu kommen wir nun. Ein Geheimnis ist’s ja ohnehin eher nicht mehr. Denn bereits vor der Vernissage war an dieser Stelle verraten worden, dass gleich hinter der Eingangstür im oberen Ausstellungssaal der Besucher, wenn er denn nur ein zwei Schritte geradeaus weiterginge, auf ein Kunstwerk träte. Oder besser: in ein Kunstwerk. In ein Kunstwerk von Christine Braun, das auf den ersten Blick viele, viele, viele weiße Sterne darstellen könnte. Schaut man genauer hin und folgt der Intention der Künstlerin, sieht man hingegen statt eines Sterns eher zwei Münder. Einmal sind dabei die Mundwinkel nach oben, einmal nach unten gezogen. Denn als Schleckerei mag Zucker eine Lust sein, im Übermaß genossen kann es indes zur Last werden. Und selbst Zuckeraustauschstoffe sollen ja nicht immer ganz geheuer sein. Auch daran mag man denken, wenn man hört, dass Christine Brauns Münder allesamt mithilfe von Isomalt auf den Museumsboden hingezuckert sind.

Das allein bringt noch niemanden in die Bredouille. Das alles kommt erst jetzt. Denn die Gretchenfrage lautet: Wie hältst Du’s mit der Kunst? Trittst Du sie vielleicht sogar mit Füßen, wenn Du darfst? Denn man kann Christine Brauns Installation betreten. Man darf, man muss aber nicht. Man kann auch darum herumgehen, so wie man das bei Kunst normalerweise tut. Man könnte aber ebenso ein paar Meter knirschend im Kreis durch das Werk schreiten oder es, in nur wenigen Sekunden, zu einem Haufen Isomalt zusammenkehren. Oder aber, nicht zuletzt auch aus Ehrfurcht vor den oft auf Knien verbrachten dreißig Stunden Handarbeit der Künstlerin, an der Kunst entlanggehen und das Werk unangetastet lassen.

Lauter Münder: Blick von oben auf den Urzustand des Kunstwerks (im Hintergrund die Künstlerin Christine Braun bei der Arbeit). Dennis Straub

Was wird wohl passieren? Das fragten wir an dieser Stelle kurz vor der Vernissage. Auch Marco Hompes fragt sich das und sagte: „Ich bin sehr gespannt.“ Und was sagt der Museumsdirektor heute, knapp acht Wochen danach? Er sagt: „Das hätte ich nicht erwartet.“ Nämlich das, dass das Kunstwerk bald zwei Monate nach der Eröffnung der Ausstellung praktisch immer noch so aussieht wie zu Anfang.

Denn man muss schon genau hingucken, um die paar kleinen Unterschiede zu bemerken. Gut, vorn beim Eingang ist der Rand der Arbeit ein bisschen, sagen wir mal, zerfasert. Und man muss kein Spurenleser sein, um daraus zu schließen, dass hier Besucher ganz aus Versehen auf die groben weißen Körner getreten und nach dem ersten Knirschen unter der Sohle erschreckt zurückgesprungen waren.

Aber sonst? So gut wie keine Veränderungen. Weiter hinten im Verlauf der Installation, die sich doch einige Meter von Süd nach Nord über den Parkettboden erstreckt, sowieso nicht. Lediglich dort, wo Christine Brauns weiße Münder einen Bogen um die erste von mehreren Säulen im Raum machen, hat sich etwas getan.

Und es darf berichtet werden nicht nur von einem blinden Reintreten um des Reintretens willen. Nein, hier hat sich jemand oder haben sich mehrere richtig Mühe gegeben und mit großer Akribie und viel Phantasie aus den Mündern ganz was anderes geformt: eine kleine menschliche Figur, eine Art Lilienblüte vielleicht, so etwas wie einen Seestern, etwas, das nach einer Feuergarbe aussehen könnte, eine Yin-und-Yang-Spielerei und noch ein, zwei, drei kleine Variationen mehr.

Plötzlich gibt es auf kleinstem Raum ganz viel zu entdecken – und Christine Brauns Kunstwerk spricht, wenn man so will, auf einmal mindestens eine weitere Sprache, ist in weiteren Zusammenhängen wahrzunehmen. Und man sieht: Es kann höchst spannend und sehr lohnend sein, in Interaktion mit Kunst zu treten. Ganz egal, ob die nun im Kopf abläuft oder ob man, was selten, aber hier in Heidenheim nun einmal möglich ist, selber Hand anlegt.

Und wir lernen ganz nebenbei: In Heidenheim geht man, selbst wenn man sie verändern darf, eher zart mit Kunst um. Oder, indem man die Finger von ihr lässt, weiter mit Ehrfurcht. Bloß blöd reingetreten ist niemand. Und das ist doch mal eine gute Nachricht.

Öffnungszeiten und Führungen

Das Kunstmuseum ist von Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen von 11 bis 17 Uhr und mittwochs von 13 bis 19 Uhr geöffnet. Die nächsten öffentlichen Führungen durch die Ausstellungen beginnen am 19. und am 20. Mai um 11.15 Uhr. Die Ausstellung „Kristallisationspunkte“ ist noch bis zum 2. Juni zu sehen.

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