Peer Gynt ist ein armes Schwein. Wäre der norwegische Bauernbengel knapp 250 Jahre später geboren worden, hätte ein jeder seine Lügengeschichten geglaubt. Wer weiß, vielleicht wäre er sogar US-Präsident geworden. Doch Peers Flunkereien, mit denen er versucht, der Realität zu entfliehen und sich interessanter zu machen, als er in Wahrheit ist, wurden ihm damals zum Verhängnis. Der geheimnisvolle Knopfgießer ist gekommen, um ihn umzuschmelzen. Denn in einer Welt, in der alle individuell sind, lebt Peer Gynt eine Durchschnittsexistenz. Zu schlecht für den Himmel, zu gut für die Hölle – als menschliche Ausschussware abgestempelt, bleibt für Peer nur der Schmelztopf. Um den Knopfgießer von seiner Einzigartigkeit zu überzeugen, erbittet Peer eine Karenzzeit und ruft angebliche Szenen seiner Vergangenheit herbei.
Das Ganze tut er im Festspielhaus des Heidenheimer Congress Centrums. Bereits zum dritten Mal gastierte dort am Wochenende das Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz, welches einmal mehr zum Heidenheimer Winterballett lud. Der Aspekt „Theater“ in „Gärtnerplatztheater“ sollte dabei keinesfalls zu kurz kommen. Denn der Choreograf Karl Alfred Schreiner bindet in seiner Version von „Peer Gynt“ ganz bewusst, und gleichzeitig für Ballett ungewöhnlich, Sprache und Schauspiel ein.

Erwin Windeggers Knopfgießer taumelt optisch zwischen Mephistopheles, Nosferatu und Voldemort und ist praktisch der einzige Charakter, der spricht. Eine kreative Entscheidung, die keinesfalls abwegig ist, denn als Grundlage für „Peer Gynt“ dient schließlich Henrik Ibsens gleichnamiges und 1867 geschriebenes dramatisches Gedicht. An Dialogen mangelt es der Originalfassung nicht.
Windeggers bemerkenswert einnehmender Knopfgießer ist trotz Namensähnlichkeit nicht für ein Tête-à-Tête mit der Knöpfleswäscherin in Heidenheim, sondern eben für Peer Gynts Seele. Dabei nimmt dieser Knopfgießer eine deutlich größere Rolle ein, als er es in Ibsens Gedicht tut. Alexander Hille interpretiert als Peer Gynt dessen tänzerischen Dialog mit dem Knopfgießer, sein Kampf um Bedeutung und Identität.
Fünf Peer-Versionen im Heidenheimer Festspielhaus
Peer beschwört verschiedene Episoden seines Lebens hervor, zumindest so, wie sie sich in seiner Fantasie abgespielt haben. Insgesamt fünf Peer-Versionen unterschiedlicher Altersstufen tanzen dabei über die Bühne. Hille, als der gegenwärtige Peer, ist bei diesen Blicken in eine angebliche Vergangenheit fast durchgängig präsent. Seine Bewegungen imitieren die seines jeweils jüngeren Ichs. Er greift in die Choreografie ein, korrigiert, kontrolliert, wie ein Puppenspieler inszeniert er sein eigenes Leben.
Was Peer da inszeniert, reicht eigentlich für mehrere Leben. Eine wilde Rauferei mit den Bewohnern seines Heimatdorfes ist dabei, die Entführung der Braut Ingrid von ihrer eigenen Hochzeit, eine Begegnung mit der Tochter des Trollkönigs oder auch Peers Reisen in ferne Lande inklusive Schiffbruch. Für den Knopfgießer reicht das nicht. „Peer, du lügst“, wirft dieser ihm permanent vor. Ein armer Fantast sei er, ein Lügenprinz. Peer gleiche einer Zwiebel, hinter deren erdichteten Identitätsschichten sich nur ein hohler Kern verberge.

Peers spektakuläre Eskapaden spielen sich vor einem so schlichten wie beeindruckenden Bühnenbild ab. Videoprojektionen auf einer gigantischen Leinwand zeigen eine ständig mutierende Landschaft, die sämtliche Elemente durchschreitet. Eintönig graue Sitzsäcke, Bean Bags, dienen wahlweise als Felsen in Peers Heimatdorf, als Rettungsboote auf See sowie als Harem-artige Sitzkissen in einem fernen Land.
Ummalt wird Schreiners poetische Inszenierung von Edvard Griegs berühmter Schauspielmusik, bei der freilich zwei Gassenhauer der Klassik, „Morgenstimmung“ und „In der Halle des Bergkönigs“, nicht fehlen dürfen. Gleichzeitig bedient sich das Ballett etwa aus den Noten zu „Oceans“ von der zeitgenössischen isländischen Komponistin María Huld Markan Sigfúsdóttir.
Cappella Aquileia haucht „Peer Gynt“ Leben ein
Überhaupt feilt und bastelt Karl Alfred Schreiner an diesem „Peer Gynt“, er stellt um und lässt weg. Und er gibt die musikalische Hoheit in die Hände von Marcus Bosch und der Cappella Aquileia, wo sie wie ein gutsitzender Handschuh nicht nur genau passt, sondern auch noch famos klingt. Pausenlose anderthalb Stunden lang spielt – und singt! – die Cappella und haucht diesem „Peer Gynt“ dadurch jenes Leben ein, nach dem dessen Hauptcharakter sich so sehr sehnt.
Selbst wenn die Cappella schweigt und verstummt, reißen die poetischen Bilder des Stücks nicht ab. Beim Tod von Peers Mutter Åse (Emily Yetta Wohl) steht ganz und gar der Tanz im Fokus, ehe sich das zu diesem Zeitpunkt fast nackte Ensemble für eine fleischfarbene Elegie um Åse und Peer versammelt.

Das Kostümbild bedarf ebenfalls lobender Worte. Schreiners Trolle werden als eine Art Vogelscheuchen mit zombieartigen Gebärden dargestellt. Peers optisches Erkennungszeichen – ein bunt kariertes Hemd – findet sich durchgängig bei seinen jüngeren Ichs wieder. Mal als T-Shirt, mal als Ärmelbündchen wird dieses Merkmal jedoch mit jedem Pendant kleiner und unscheinbarer. In jedem Kostüm steckt etwas weniger Peer und etwas mehr Lüge drin.
Tänzerisch ist das gesamte Ensemble exzellent. Jede Tänzerin und jeder Tänzer gibt sowohl aus artistischer als auch aus athletischer Sicht alles. Zudem vermögen sie es alle, den traum- bis albtraumhaften Eskapaden und Lügengeschichten ein gewisses Maß an Stringenz zu verleihen. Was wahr ist und was nicht, mag sich nicht immer sofort erschließen, doch das Gärtnerplatztheater verknüpft alles gekonnt zu einem guten Ganzen.
Zwei Abende Winterballett in Heidenheim
Am Ende zeigt sich Schreiners Peer Gynt fast schon versöhnlich. Solveig (Marta Jaén Garcia), die Frau, die Peer seit Jugendzeiten liebt, hält ihn für genau das, was Peer versucht, zu sein: einzigartig. Peer Gynt erhält einen Aufschub vom Tod. Und die Heidenheimer? Die erhielten an zwei Abenden genau das, was diese Inszenierung sein möchte: großes Theater, großes Ballett. Große Kunst.