Psyche

Wie ein Treffen der Selbsthilfegruppe für psychische Stabilität in Herbrechtingen abläuft

Zweimal im Monat trifft sich die Selbsthilfegruppe für psychische Stabilität in Herbrechtingen. Wie verläuft so ein Abend, wer sind die Teilnehmer und warum kommen sie? Ein Besuch.

Wie ein Treffen der Selbsthilfegruppe für psychische Stabilität in Herbrechtingen abläuft

Psychische Stabilität ist ja eigentlich etwas sehr Gutes. Genauso wie Selbsthilfe. Trotzdem verbindet man mit dem Begriff Selbsthilfegruppe wohl eher Kummer, Schmerz und Tränen. Schwere Schicksale und schlimme Geschichten. Vielleicht Diagnosen und Symptome. Grundsätzlich falsch ist das zwar nicht – aber bei einem Besuch der Selbsthilfegruppe für psychische Stabilität in Herbrechtingen zeigt sich schnell: Es geht um viel viel mehr.

Am Tisch im Gemeindesaal der St. Bonifatius Kirche sitzen Rentner, Personalleiter, Sozialarbeiter, Arbeitslose. Frauen und Männer zwischen 26 und 62. Alle gebildet und gut im Umgang mit Worten. Wer genau jeden zweiten Donnerstag um 19 Uhr dabei ist, weiß der Moderator oder Leiter der Gruppe Horst Cantarutti aber im Vorfeld nie. Und das Wort leiten mag er im Zusammenhang mit der Gruppe auch nicht sonderlich. „Ich lenke höchstens ein bisschen.“ Wichtig sei ihm nur, dass die Gruppe ins Gespräch komme.

Horst Cantarutti moderiert die Gruppe. Rudi Penk/Archiv

Manche kommen schon länger zu den Treffen, manche unregelmäßig, manche sind zum ersten Mal dabei. Bei der Vorstellungsrunde geht es natürlich um die individuellen Gründe, an den Treffen teilzunehmen. Es gab Missbrauch in der Kindheit, Mobbing am Arbeitsplatz oder auch schlicht und ergreifend zu viel Stress im Leben. Und natürlich geht es um Ängste, Depressionen, ADHS oder chronische Erschöpfung.

Was alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einen scheint: Sie möchten sich darüber austauschen und fühlen sich von den vermeintlich Gesunden und „Normalen“ oft weder gehört noch verstanden. „Psychische Erkrankungen wollen die meisten ausblenden und einfach nichts damit zu tun haben“, sagt ein Teilnehmer. Das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe helfe, sagen mehrere. Denn oft drehe man sich in Gedanken nur im Kreis, Input von außen könne helfen, diesen zu durchbrechen.

Was ist ein gutes Leben und wie misst man Erfolg?

Im Laufe des Abends werden die Gespräche zunehmend philosophisch. Wie viel Materielles braucht man für ein gutes Leben? Und was ist das überhaupt? Braucht man eine gewisse Unzufriedenheit, um im Leben erfolgreich zu sein? Und wie misst man Erfolg? Wie viel Selbstkritik und der Wille zu funktionieren ist gesund? Und woher rührt Überforderung? Setzt man sich selbst unter Druck, ist es das nahe Umfeld oder die Gesellschaft? Es wird lebhaft diskutiert. Und auch gelacht. Obwohl teils komplett Fremde am Tisch sitzen, fühlt man sich wirklich wie in einer Gemeinschaft. Selbst als (nicht ganz stiller) Beobachter und auch wenn die Lebensläufe und auch die Meinungen verschieden sind.

Der Umgang ist respektvoll, ehrlich, konstruktiv

Am Tisch sitzen ganz normale Leute. Und doch auch nicht, denn es ist bei Weitem nicht jedem gegeben, offen und ehrlich über seine Gefühle zu sprechen, Schwächen zuzugeben. Und was noch wichtiger ist: Hier wird nicht nur gesendet, hier wird zugehört, reflektiert, sich auf den anderen eingelassen. Was gesagt und geantwortet wird, ist ebenso reflektiert wie klug. Es wird sich nicht dumpf beschwert und auch nicht pauschal gehadert. Der Umgang ist respektvoll, ehrlich, konstruktiv.

Man stellt sich unweigerlich die Frage: Warum sitzen denn eben diese sensiblen Menschen hier am Tisch? Sind sie aufgrund ihrer Erkrankungen geübter darin, über ihre Probleme zu sprechen? Oder sind sie feinfühliger als andere und macht einen das anfälliger für psychische Probleme? Kaum zu beantworten.

Nach knapp zwei Stunden trennt sich die Gruppe. Rückblickend betrachtet war es fast wie ein Abend mit guten Freunden, bei dem man etwas über sich, seine Mitmenschen und das Leben lernt. Ein wohltuender Kontrast zu manchem Smalltalk im Büro, oder zu den ewig negativen Kommentarspalten in sozialen Netzwerken, wo mittlerweile jeder glaubt, Recht zu haben und eine Diskussion gar nicht mehr möglich ist. Vielleicht sollten alle hin und wieder eine Selbsthilfegruppe besuchen. Empathie und Selbstreflektion hat schließlich noch keinem geschadet. Und weniger Oberflächlichkeit auch nicht.

Die Treffen in Herbrechtingen

Die Selbsthilfegruppe für psychische Stabilität trifft sich immer 14-tägig donnerstags um 19 Uhr im Gemeindesaal der St. Bonifatius Kirche in Herbrechtingen. Der nächste Treffpunkt ist heute (19. Oktober). Nähere Infos bei Horst Cantarutti unter Tel. 0152.27108013.

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