Nur fünf Beine, toller Geiger, großer Abenteurer: Den Maikäfer Sumsemann kannte früher jedes Kind. Die Erwachsenen ebenso. Und selbst als die Amis endlich auf dem Mond landeten, wusste man zumindest in Germany, dass Herr Sumsemann längst dort gewesen war. Und auch wieder heil zurück. Mit seinem sechsten Bein, vollständig. Die ganze Geschichte erzählt das Märchen „Peterchens Mondfahrt“. Und sein Autor stammt von hier. Gerdt von Bassewitz wurde in Allewind geboren, am 4. Januar 1878, also vor bald 150 Jahren. Doch kaum war er da, war er auch schon wieder weg.
Nicht daran allerdings liegt es, dass kaum einer hier vom Bezug des Autors zum Landkreis Heidenheim oder dass man überhaupt grundsätzlich wenig weiß über einen Mann, der etwas hinterlassen hat, das auch hundert Jahre nach seinem Tod nicht aus der Welt ist. Gestorben ist Gerdt von Bassewitz in Berlin. Durch eigene Hand. Und auch am Ende seiner Geschichte war „Peterchens Mondfahrt“ nicht weit. Am 6. Februar 1923 las er in der Villa Siemens am Wannsee aus dem Buch. Anschließend verließ er eilig die Veranstaltung und tötete sich selbst. Sein Grab auf dem Berliner Friedhof Nikolassee wurde 1957 eingeebnet.
Allewind taucht auf
Als Gerdt Bernhard von Bassewitz zur Welt kam, war Deutschland ein Kaiserreich. Und Württemberg hatte einen König. Der war auch für Allewind zuständig, wo Gerdts Vater, ein Dragoneroffizier, das gleichnamige Gut gepachtet hatte. Eberhard von Bassewitz entstammte dem Hohenluckower Zweig der mecklenburgischen Linie des Uradelsgeschlechts von Bassewitz. Seine Frau, Gerdts Mutter, wird zwar nirgendwo mit Vornamen genannt, man erfährt aber immerhin, dass sie aus Husum stammte und ihren Gatten im Hause des evangelischen Theologen Christoph Blumhardt kennenlernte, der in Bad Boll ein Heil- und Seelsorgezentrum leitete, das Gäste aus ganz Europa anlockte.
Das heute von 21 Einwohnern bevölkerte Allewind hingegen war gerade einmal seit 40 Jahren auf der Landkarte zu finden, als sich das Ehepaar Bassewitz dort niederließ. Im Jahr 1836 hatte der aus Dettingen stammende Ludwig Kurz eine Ziegelei auf der den Winden aus allen Richtungen ausgesetzten Anhöhe nordöstlich von Hermaringen errichtet. Im April 1875 erwarb der Giengener Privatier Melchior Hähnle, ein älterer Bruder des Filzfabrikgründers Hans Hähnle, den Grund und wurde durch Umbau und Zukauf schlussendlich Besitzer eines 68 Hektar großen Gutes, das zur eigentlichen Keimzelle des Ortes wurde und das er an den Dragoneroffizier aus Mecklenburg verpachtete, der dort, so sieht es aus, das Gutsherr-Sein üben wollte.

Hier kam 1878 Gerdt von Bassewitz zur Welt. Und hier stand, 80 Jahre später, auch die Wiege von Dieter Hertäg, der uns, gemeinsam mit Dagmar Holzschuh, die inzwischen auf der Homepage der Gemeinde dafür gesorgt hat, dass Gerdt von Bassewitz, neben Georg Elser und Rudolf Magenau, den ihm gebührenden Platz eines bekannten Sohnes Hermaringens einnimmt, an einem nassen Februartag des Jahres 2025 auf seinem Hof empfängt. Spurensuche in Sachen „Peterchens Mondfahrt“.
Umzug nach Westpommern
Wie der alte Gutshof damals ausgesehen haben mag, welche Gebäude wo standen, das alles ist nicht mehr zu rekonstruieren. Mag sein, dass ein Teil des Mauerwerks der alten Scheuer in der Einfahrt noch aus den 1870er-Jahren stammt. Das heutige Hauptgebäude, in dem Dieter Hertäg geboren wurde, ließ Melchior Hähnle an der Wende zum 20. Jahrhundert erbauen.
Erinnert hier noch etwas an Gerdt von Bassewitz? Nein. Ohnehin wird der kleine Gerdt wohl kaum zwei Jahre alt gewesen sein, als er Allewind verließ und mit seinen Eltern nach Westpommern aufs Familiengut Liebenow zog, welches sein Vater, dessen Vater wiederum wohl deutlich über seine Verhältnisse gelebt hatte, allerdings bald darauf verkaufte und, um die Familie ernähren zu können, eine Stelle als Beamter bei der Forstkasse im benachbarten Hohenwalde antrat.

Beinahe alles, was man über Gerdt von Bassewitz in Erfahrung bringen kann, geht aus einer Selbstbeschreibung von dessen eigener Hand hervor, die in einem Brief vom 10. März 1917 an Franz Brümmer, den Herausgeber des „Lexikons deutscher Dichter und Prosaisten des 19. Jahrhunderts“, nachzulesen ist und in dessen Nachlass gefunden wurde, der über die Staatsbibliothek zu Berlin zugänglich ist.
Militär statt Astronomie
Man erfährt dort unter anderem auch, dass Gerdt noch vier Schwestern hatte, Schulen in der Nähe von Görlitz (bei den Herrnhuter Brüdern) und in Putbus auf Rügen (das fürstliche Pädagogium, „die glücklichste Zeit meiner Jugend“) besuchte, ehe er, vielleicht mehr nolens als volens, wie man vermuten möchte, in den Fußstapfen des Vaters und auf dessen Wunsch Soldat wurde. Wenn es nach ihm gegangen wäre, schreibt Bassewitz, „so hätte ich am liebsten Astronomie studiert“.
Nicht lange, nachdem Gerdt von Bassewitz die Kriegsschule in Metzt absolviert hatte, machte sich bei dem jungen Offizier eine Herzerkrankung bemerkbar. Und mit gerade einmal 25 Jahren wurde er, nach beruflichen Stationen wie der als Kommandeur einer Zuchthauswache, seines Gesundheitszustandes wegen pensioniert.
Plötzlich Theater
Nun wandte sich Gerdt von Bassewitz, der als Jugendlicher schon einige Gedichte geschrieben hatte, der Bühne zu. In Kontakt mit dem Theater kam er 1903 in Gotha, in einem Berliner Verlag war er anschließend als Redakteur und Theaterkritiker angestellt, ehe er als Leiter des Krupp’schen Bildungswesens nach Essen ging, wo er nicht nur Konzerte und Ausstellungen organisierte, sondern auch ein offenbar sehr ambitioniert arbeitendes Werkstheater mit Mitarbeitern der Friedrich Krupp AG gründete.
Das sprach sich wohl herum, denn 1908 wurde Gerdt von Bassewitz als Direktionsassistent ans Kölner Stadttheater engagiert, wo er drei Jahre blieb und auch als Schauspieler und Autor in Erscheinung trat. Als erfolgreicher Autor. Noch in Köln wurde 1911 sein Schauspiel „Schahrazade“ uraufgeführt. Das Stück fand auch einen Verleger: Ernst Rowohlt, den Gerdt von Bassewitz in Leipzig kennengelernt hatte, wo er wiederum keinem Geringeren als Franz Kafka aufgefallen war, der den Schauspieler Bassewitz in seinem Tagebuch erwähnte.
Für sein Drama „Die Sunamitin“, das 1912 bei Rowohlt zunächst in Buchform erschien und im Winter desselben Jahres dann als Theaterstück in Köln herauskam, erhielt Gerdt von Bassewitz den von der Kölner literarischen Gesellschaft ausgelobten Preis „für ernst zu nehmende Autoren“. Ebenfalls mit dem Preis ausgezeichnet wurden in jenem Jahr Arno Holz und Frank Wedekind.
Beinahe zeitgleich, am 7. Dezember 1912, wurde in Leipzig im Alten Theater mit durchschlagendem Erfolg „Peterchens Mondfahrt“ uraufgeführt, und zwar als Schauspiel mit Musik. Josef Achtéliks Noten hierzu galten lange als verschollen, ehe sie ein Enkel des Komponisten auf einem alten Speicher wiederfand und sie 2012, 100 Jahre nach der Uraufführung, dem Kinderchor des Mitteldeutschen Rundfunks für eine Jubiläums-Aufführung zur Verfügung stellte.
Mondfahrer und Opernlibrettist
Seit Leipzig 1912 wurde „Peterchens Mondfahrt“ nicht nur auf zahlreichen Bühnen unzählige Male als Theaterstück inszeniert, sondern darüber hinaus auch dreimal fürs Kino verfilmt. Es gibt sechs Hörspielfassungen des Märchens, und auch als Brettspiel ist es auf den Markt gelangt.
Die Geburtsstunde von „Peterchens Mondfahrt“ als Kinderbuch-Klassiker wiederum schlug 1915, als Hermann Klemms Verlagsanstalt für Literatur und Kunst in Berlin-Grunewald das Märchen mit Illustrationen von Hans Baluschek herausbrachte.
Ausgedacht haben soll sich Gerdt von Bassewitz die Geschichte übrigens im Jahre 1911 während eines Kuraufenthaltes im Sanatorium von Dr. Oskar Kohnstamm in Königstein im Taunus, wohin es zu jener Zeit zahlreiche Kunstschaffende wie den Maler Ernst Ludwig Kirchner, den Dramatiker Carl Sternheim oder den Dirigenten Otto Klemperer zog. Letzterer ist Bassewitz in Königstein persönlich begegnet. Und dass dieser wiederum für Peter und Anneliese Kohnstamm, zwei der vier Kinder des Sanatoriumsdirektors, ein Märchen geschrieben habe, dem er den
Titel „Peterchens Mondfahrt“ gab, schildert Eva Weissweiler in ihrer Klemperer-Biografie.
Auf dem bereits erwähnten Bassewitz-Schauspiel „Schahrazade“ basiert übrigens die gleichnamige Oper des Humperdinck-Schülers und Adorno-Lehrers Bernhard Sekles, die am 2. November 1917 unter der musikalischen Leitung von Wilhelm Furtwängler an der Mannheimer Hofoper uraufgeführt wurde und rasch Verbreitung auf Deutschlands Bühnen fand. Noch im selben Jahr brachte Stuttgart eine „Schahrazade“ heraus, bis 1923 folgten Aachen, München, Frankfurt, Düsseldorf, Duisburg, Wiesbaden und Lübeck. Später fiel das Werk der Vergessenheit anheim, ehe es im Jahr 2013 an den Bühnen Halle zu einer Neuproduktion kam.
Frankreich, Polen, Russland
Bei Kriegsausbruch 1914 meldete sich Gerdt von Bassewitz freiwillig zur Armee und wurde – wegen seines Herzfehlers als „bedingt garnisonsfähig für Kraftfahrtruppen“ eingestuft –, im besetzten Frankreich als Leutnant und Kompanieführer bei einer Ersatzabteilung der dritten Armee eingesetzt, die neue Automobile zur Frontlinie brachte. Als diese ganz an die Front verlegt werden sollte, absolvierte Gerdt von Bassewitz deshalb einen Kuraufenthalt in Nauheim, um als „bedingt feldfähig“ eingestuft werden zu können. Bei dieser Gelegenheit entstand das Märchenspiel „Pips, der Pilz“.
Nach der Rückkehr in den Kriegsdienst 1915 wurde Gerdt von Bassewitz in Polen und Russland als Führer des Postparks der zwölften Armee, dem auch die Kontrolle über sämtliche Poststraßen in deren Gebiet oblag, weiterhin in der Etappe eingesetzt, die er in dem Brief an Franz Brümmer bar aller Schrecken, ja beinahe als Idyll skizziert, erlitt im Jahr darauf allerdings einen durch einen Streit unter Offizieren ausgelösten Nervenzusammenbruch, von dem er sich in Königstein und Schluchsee erholen sollte. Der Tod seines Vaters und andere Familiensorgen führten jedoch dazu, dass er sich in dauerhafte Behandlung im Sanatorium von Dr. Sinn in Neubabelsberg begeben musste. Bis zu seinem Selbstmord 1923 lebte Gerdt von Bassewitz mitunter bei seiner Mutter in Hohenwalde, zumeist aber in Berlin.

Ob Gerdt von Bassewitz jemals an seinen Geburtsort zurückgekehrt ist, nach Allewind? Wohl kaum. Aber wer weiß? Und hat er sich, falls er jemals an den kleinen Flecken dachte, in dem er das Licht der Welt erblickt hatte, vorstellen können, dass einmal ganz in der Nähe auch noch fast 150 Jahre nach seiner Geburt ein Stück von ihm auf dem Theater gespielt werden würde? Zuletzt 2019, „Peterchens Mondfahrt“ selbstverständlich, als Wintermärchen des Heidenheimer Naturtheaters, in dessen Archiv sich auch Textbücher von Bassewitz’ „Schahrazade“ und „Die Sunamitin“ finden. Schon zweimal zuvor hatte Gerdt von Bassewitz’ Chef d’Œuvre auf dem Spielplan der Volksschauspiele gestanden: 1993 und 1994. Und auch im Sasse-Theater in Schnaitheim brachte man 2007 „Peterchens Mondfahrt“ auf die Bühne.
Wenn man in Allewind, Hermaringen, Schnaitheim oder Heidenheim möchte, stünde 2028 ein Jubiläumsjahr an. Immerhin aber sieht es inzwischen wenigstens so aus, als könne man behaupten, dass Gerdt von Bassewitz nun auch wieder mit seiner erste Heimat Bekanntschaft geschlossen hat. Und sie mit ihm. Der Maikäfer ist gelandet.