Der zehnjährige Kevin schubst den achtjährigen Luka auf der Treppe des Schulhauses auf dem Weg in die Pause. Der neunjährige Leon greift dem gleichaltrigen Paul in den Schritt. Die Zweitklässlerin Lea wird wieder und wieder von drei Mädchen aus der vierten Klasse bedroht und eingeschüchtert. Auf dem Pausenhof beschimpfen sich Schüler mit Worten, die man – wenn überhaupt – samstagnachts beim Streit vor einem Club erwartet. Diese und ähnliche Situationen spielen sich tagtäglich an vielen Schulen ab – auch im Landkreis Heidenheim.
„Wir haben festgestellt, dass die Gewalt und die sexualisierte Gewalt überall immer mehr zunimmt. Das betrifft sowohl die körperliche als auch die verbale Form, und das beginnt leider schon in der Grundschule“, erzählt Susanne Tagscherer. Die Religionslehrerin an der Königsbronner Georg-Elser-Schule war erschrocken über die hohen Zahlen, die in den Medien in Sachen Kindesmissbrauch genannt werden. „Das betrifft nicht nur den Missbrauch, der von Erwachsenen ausgeht, sondern auch den, den die Schüler untereinander ausüben.“
„Leider erleben wir auch an unserer Schule Situationen, in denen sich Kinder gegenseitig belästigen, sogar an der Grundschule“, sagt Grundschullehrerin Ute Kühling. Dabei fielen auch Beleidigungen, deren Bedeutung die Kinder gar nicht verstehen. Das sei an Reaktionen zu erkennen, die nicht ins Bild passen, aber auch, wenn Schüler von sexualisierten Situationen erzählen.
Die ganze Schule macht mit
Angesichts dieser Erfahrungen kam an der Georg-Elser-Schule schon vor Jahren die Idee auf, Präventionsarbeit zu leisten. „Wir haben überlegt, welche Möglichkeiten es gibt, hier als gesamte Schule mit allen Schularten zu handeln, um den Kindern und Jugendlichen mehr Sicherheit und damit die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten.“
Recht schnell habe man herausgefunden, dass so eine Aufgabe nicht vom Kollegium allein gestemmt werden könne und professionelle Hilfe notwendig sei. „Noch vor dem ersten Lockdown hatte das gesamte Kollegium eine zweitägige Fortbildung, daraus hat sich dann eine Gruppe entwickelt, die sich intensiver mit dem Thema beschäftigt hat“, sagt Kühling. Es wurden Fragebögen ausgearbeitet, die sowohl von den Lehrern als auch von den Schülern von Grund- und Realschule ausgefüllt wurden, um herauszufinden, wo die Probleme liegen. „Wir waren uns bewusst, dass das nicht leicht wird, also holten wir fachliche Unterstützung.“ Die fand man dann beim Projekt Fibip, einem Kooperationsprojekt der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit Baden-Württemberg.
Befragung bildet die Grundlage
„Bei der Befragung ging es darum, herauszufinden, wo sich Schüler sicher oder unsicher fühlen, ob sie Vertrauenspersonen an der Schule haben und welche das sind, ob sie schon einmal sexualisierte Gewalt in irgendeiner Form erfahren haben, oder ob sie schon verbal verletzt wurden“, so Tagscherer. „Das Problem ist, dass sich die Sprache so entwickelt hat, dass sexualisierte Beleidigungen bei manchen Kindern und Jugendlichen schon integriert sind und zum normalen Wortschatz gehören“, so die Schulsozialarbeiterin Laura Widmann.
Die Umfrage, so Tagscherer, sei ein voller Erfolg gewesen. Um die 600 beantwortete Fragebögen habe man ausgewertet, und so eine gute Grundlage für die weitere Vorgehensweise gehabt. „Viele Schülerinnen und Schüler haben beispielsweise Orte genannt, an denen sie sich nicht sicher fühlen: Bushaltestellen, Toiletten, manche trauen sich nicht in den ersten Stock. Am wohlsten fühlen sich wohl die meisten bei ihren Klassenlehrern“, sagt Kühling.
Prävention und Aufklärung im Unterricht
Aus den alltäglichen Erfahrungen und den Ergebnissen der Befragung heraus sei dann letzten Endes ein „Schulkonzept gegen sexualisiert Gewalt“ entstanden, das speziell auf die Georg-Elser-Schule zugeschnitten ist. Das 22 Seiten umfassende Papier regelt sehr vieles, was den Umgang miteinander betrifft, ist aber auch Handlungsleitfaden für Pädagogen und Mitarbeiter der Schule und probiert, die Präventionsarbeit in den Alltag zu integrieren. „Wir haben versucht, die Prävention und Aufklärung so gut wie möglich in den Lehrplan zu integrieren und so das soziale Miteinander wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken“, erklärt Kühling. Das finde teils eingebettet in den normalen Unterricht statt, es gebe auch spezielle Themen, die separat aufgearbeitet werden. „Dabei geht es nicht ausschließlich um Missbrauch, sondern auch um andere Schwierigkeiten, die etwa in der Familie auftreten“, so Widmann. Wichtig sei, dass es sowohl in der Grund- als auch in der Realschule verpflichtend ist, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.
Das Konzept sieht auch vor, dass in den Klassen drei bis sechs regelmäßig Klassenrat gehalten wird, um Probleme gemeinsam anzusprechen und zu beseitigen. „Diese offene Aussprache führt auch dazu, dass die Kinder sich ernst genommen fühlen“, so Kühling. Ein weiterer Bestandteil ist, dass alle Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrkräfte und Beschäftigen an den Schulen einen „Ehrenkontrakt“ unterschreiben, in dem es um den Umgang miteinander geht. „Allein die Tatsache, dass ihn jeder unterschreibt, bedeutet eine gewisse Verpflichtung“, sagt die Grundschullehrerin.
Handlungsleitfaden für Lehrkräfte
Auch ein Handlungsleitfaden ist in dem Konzept vorgesehen, das seit dem Schuljahr 2022/23 umgesetzt wird. Dieser Leitfaden schreibt genau vor, wer von wem und wann zu kontaktieren ist, wenn es zu Vorfällen kommt. „Das gibt auch den Lehrkräften eine gewisse Sicherheit im Umgang mit besonderen Situationen sexualisierter Gewalt“, so die Schulsozialarbeiterin. Um den Kindern mehr Sicherheit auf dem Schulhof zu geben, habe man außerdem „Pausenengel“ eingeführt. Für diese Tätigkeit könnten sich Viertklässler bewerben, die dann abwechselnd Ansprechpartner für die jüngeren Grundschüler seien, etwa bei kleineren Streitigkeiten. „Die finden ihre Aufgabe super und sind sehr beschäftigt“, so Kühlings Erfahrung.
Verrohung bei Kindern und Jugendlichen
Doch warum hält man an der Georg-Elser-Schule ein solches Konzept überhaupt für notwendig? „Die Kinder verändern sich stark, das betrifft auch den Umgang untereinander in der Familie. Vieles, was soziale Kompetenzen betrifft, wird heute nicht mehr so gelebt wie früher“, sagt Kühling. „Vielen Kindern fehlt die Fähigkeit zur Empathie, sie gehen teils herzlos miteinander um“, ergänzt Tagscherer. „Durch die Beschäftigung mit den sozialen Medien fällt für viele das Interagieren im realen Leben weg, dabei geht auch der Umgang miteinander verloren“, so die Erfahrung des Realschullehrers Timo Laber: „Leider mussten wir in den vergangenen Jahren eine starke Verrohung feststellen, Solidarität und Mitgefühl sind bei den Schülerinnen und Schülern immer mehr verschwunden, jeder kämpft nur noch für sich allein. Das ist ein gesellschaftliches Problem.“
Probleme, die es sicherlich auch an vielen anderen Schulen gibt, doch an der Georg-Elser-Schule werden sie thematisiert und angesprochen. Das Konzept soll dabei helfen, gegenzusteuern und wieder mehr Menschlichkeit und ein gelebtes Miteinander in den Schulalltag bringen. Inwieweit das funktionieren kann, hängt auch davon ab, wie das Konzept im Alltag umgesetzt wird. Gefragt sind dabei alle: Kinder, Jugendliche und alle am Schulleben Beteiligten.
Unterstützung beim Konzept
„Das Schulkonzept gegen sexualisierte Gewalt“ an der Königsbronner Georg-Elser-Schule wurde in Kooperation und mit Unterstützung des Fibip-Projekts erstellt. Dabei handelt es sich um ein Kooperationsprojekt der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit Baden-Württemberg e.V. und des Frauenberatungs- und Therapiezentrums Stuttgart. Dies wird vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg gefördert.
Das Projekt bietet eine Vielfalt von Fortbildungs- und Präventionsprogrammen und hilft unter anderem Schulen dabei, Programme gegen sexualisierte Gewalt zu erstellen.