Wer wird schon gerne älter? Auch Glocken nicht. Gerade noch mal gutgegangen ist jetzt solch ein Fall in Königsbronn. Dort nämlich hätte es passieren können, dass die ohnehin älteste Glocke von Mariä Himmelfahrt gewissermaßen über Nacht um gleich 40 Jahre gealtert wäre.
Heute noch 562 Jahre alt, morgen bereits 602. Heute noch die viertälteste Kirchenglocke im Landkreis Heidenheim, morgen schon auf dem Alterstreppchen und die Nummer drei der Oldie-Hitparade. Es war knapp, aber es hat dann doch nicht sollen sein.
Gegossen, davon darf man weiter ausgehen, wurde die Glocke im Jahr 1463. Ziemlich sicher in einer Gießerei in Biberach. In Königsbronn jedoch hört man das zweihundertzwei Kilogramm schwere Instrument erst seit 1952, denn zuvor war es 489 Jahre lang in St. Isidor in Eggartskirch bei Ravensburg geläutet worden.
Doch weil man sich dort nach einer überaus ertragreichen Spendenaktion einen neuen, eisernen Glockenstuhl samt einem neuen Geläut zulegte, zu dessen Klang der der alten Glocke nicht recht passen wollte, machte das bischöfliche Ordinariat den Vorschlag, diese als Geschenk nach Königsbronnn zu senden, wo gerade eine Notkirche geweiht worden war.
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Die Zeit der Notkirche
Deren Bau wiederum war eine Reaktion auf die nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch Heimatvertriebene auf 844 Mitglieder angewachsene katholische Gemeinde in Königsbronn gewesen. Noch im Jahr 1935 hatte es im Ort gerade einmal sieben katholische Familien gegeben. Und nun gab es immerhin schon eine katholische Notkirche.
Samt Glocke, denn das Geschenk aus Eggartskirch war selbstverständlich hochwillkommen. Ein Ende hatte die Notkirche gut 30 Jahre später, und nach ihrem Abriss wurde 1987 Mariä Himmelfahrt eingeweiht, wohin – mit zunächst zwei, dann drei Geschwistern – auch die ursprünglich Eggartskircher Glocke umzog und dort bis auf den heutigen Tag 524 Jahre älter ist als die Kirche, in der sie erklingt.
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Oder sogar 564 Jahre? Diese Frage warf dieser Tage das Schreiben eines Eggartskircher Heimatforschers auf, der im Internet auf die 2017 erschienene und 2018 mit dem Deutschen Preis für Denkmalschutz ausgezeichnete HZ-Serie „Heiliger Bimbam“ gestoßen war, in der die ältesten Kirchgenglocken im Landkreis Heidenheim die Hauptrolle spielen. Die Königsbronner Glocke, 29 Jahre vor Kolumbus‘ erstem Amerika-Auftritt gegossen, ist die viertälteste dieser Glocken.
Die römische Art
Oder doch die drittälteste? Denn in einem 1931 in der Deutschen Verlagsanstalt erschienenen Buch über die Kunst- und Altertumsdenkmale im Oberamt Ravensburg, ist auch von der Glocke in Eggartskirch die Rede; und von der Jahreszahl 1423, die in einer etwas extravagant gehandhabten römischen Art und Weise und den Ziffern MCCCCXXIII (eher erwarten würde man ein MCDXXIII) zusammen mit den lateinischen Anfangsworten des „Ave-Maria“ als Inschrift darauf verewigt sei. Jedenfalls bat der Eggartskircher Heimatforscher um Amtshilfe.
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Nun war die Königsbronner Glocke anno 2017 anlässlich des Besuchs der HZ-Glöckner von allen Seiten fotografiert worden. Nur anscheinend leider nicht von der, auf der die Inschrift zu lesen gewesen wäre, die seinerzeit als MCCCCLXIII, also 1463, interpretiert wurde und so übrigens auch im in den 1950er Jahren erschienenen Glockenatlas für Württemberg und Hohenzollern aufgenommen ist.
„Bimbam reloaded“
Hatte man sich also geirrt? Um dies herauszufinden, half nur ein erneuter Besuch in der Glockenstube von Mariä Himmelfahrt. „Bimbam reloaded“ also, wie man auf gut Neudeutsch inzwischen sagen dürfte. Und wieder mit von der Partie an der Seite der beiden HZ-Redakteure: Pfarrer Dietmar Krieg, der sich im Dienste der Glockenwissenschaft derart ins Zeug legte, dass seine Winterjacke bei all der Kletterei im mehr als engen Glockenstuhl in geradezu ruinöser Weise in Kontakt mit dem für die Antriebsketten des Geläuts reichlich verwendeten Schmierfett geriet. Doch wenn’s der Wahrheitsfindung dient . . .
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Dieser Wahrheit näherten sich die Wahrheitsforscher nicht nur infolge der dafür notwendigen Kraxelei eher kreuz und quer sowie hin und her. Zwar waren die Buchstaben beziehungsweise Ziffern M und CCCC recht schnell verortet und identifiziert. Schwieriger, weil gebunden und damit sehr ähnlich einem M dargestellt, waren da schon die drei I.
Aber ob man davor XX oder doch LX lesen könne, war, weil ausgerechnet an diesen beiden, insbesondere am zweiten Buchstaben der Zahn der Zeit genagt hat, eine Frage, die in vielen durchs Glockenstuhlgebälk schallenden Selbstgesprächen durcheinander sehr kontrovers und abwechselnd mal so und dann auch wieder anders beantwortet wurde. Es fehlte nicht viel, und die Diskutanten hätten sich noch selber ein X für ein U vorgemacht. Oder auch umgekehrt.
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Bei Lichte betrachtet
Und während sich zu Beginn der Beratungen, immerhin waren Zweifel gesät worden, weshalb bestimmte Erwartungen womöglich den Blick etwas trübten, die Waagschale eher zugunsten der XX-Lösung, also 1423 neigte, die Glocke tatsächlich 40 Jahre älter zu werden schien, überzeugten sich die drei Glockenforscher nach und nach davon, doch nichts Neues zu sehen.
Denn bei Lichte betrachtet, das aus einer Taschenlampe in immer wieder anderem Winkel auf die Glockenschulter und die Inschrift darauf geworfen wurde, kristallisierte sich schlussendlich immer mehr heraus, dass es sich beim ersten Buchstaben nicht um ein X handeln kann und folglich logischerweise um ein L handeln muss, weil alles andere an dieser Stelle keinen Sinn machen würde. Noch mehr Nahrung gaben dieser Lesart nach der Rückkehr in die Redaktion die vergrößerten Tatortfotos.
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Bliebe als Fazit: Mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit, wenn auch nicht mit allerletzter Bestimmtheit, darf weiter davon ausgegangen werden, dass die ursprünglich aus Eggartskirch stammende Königsbronner Glocke im Jahr 1463 gegossen wurde und mit 562 Jahren die viertälteste im Landkreis Heidenheim ist.
Diese Sicht der Dinge vertritt übrigens mit Roman Schmid auch der Glockensachverständige der Diözese Rottenburg, der nach Rückkehr des Expeditionsteams aus Königsbronn mit einer Nahaufnahme der Inschrift versorgt und um seine Meinung gebeten wurde.
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Drei bleiben älter
Nur drei Glocken hierzulande sind also nach wie vor noch älter als die in Königsbronn: eine in St. Michael in Gussenstadt, die 1446 von Johannes Fraedenberger in Ulm gegossen wurde, eine in der Michaelskirche in Gerstetten, die aus dem 14. Jahrhundert stammt und deren Gießer unbekannt ist, und eine sogar zu Anfang des 14. Jahrhunderts ebenfalls von Unbekannt hergestellte in St. Martin in Heldenfingen. Immerhin hängen im Landkreis insgesamt noch 19 Glocken, die vor dem Jahr 1700 gegossen worden sind. Zehn weitere stammen aus dem 18. Jahrhundert.