Leserbrief

Aussage der AOK-Vorsitzenden Carola Reimann ist ein Schlag ins Gesicht der gesamten Ärzteschaft

Leserbrief zum Beitrag „Gesetzlich Versicherte zahlen immer mehr beim Arzt“ vom 4. Dezember im überregionalen Teil der gedruckten Ausgabe, den die „Südwest Presse“ verantwortet.

Mit großem Unverständnis habe ich die jüngsten Aussagen von Carola Reimann, der Vorsitzenden der AOK, zu den sogenannten IGeL-Leistungen (Individuelle Gesundheitsleistungen) gelesen. Zu behaupten, diese Leistungen dienten ausschließlich der Bereicherung von Ärztinnen und Ärzten, ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der gesamten Ärzteschaft, sondern auch eine grobe Verzerrung der Realität. Täglich setzen wir uns in unseren Praxen für die Gesundheit unserer Patientinnen und Patienten ein, und IGeL-Leistungen sind dabei oft ein wichtiger Baustein.

In meiner gynäkologischen Praxis haben sich IGeL-Leistungen immer wieder als entscheidend für die frühzeitige Erkennung schwerwiegender Erkrankungen wie Eierstock-, Brust- oder Gebärmutterkrebs erwiesen. Dank dieser zusätzlichen Untersuchungen konnten wir viele Patientinnen rechtzeitig behandeln und ihnen so aufwändige, belastende und teure Therapien ersparen. Ohne IGeL-Leistungen wären solche Präventivmaßnahmen in diesem Umfang schlichtweg nicht möglich.

Die pauschale Behauptung, diese Leistungen seien sinnlos oder diente der Profitmaximierung, ist nicht haltbar. Als Gynäkologe erhalte ich im Rahmen der gesetzlichen Abrechnung gerade einmal 17,99 € pro Quartal und Patientin – eine Pauschale, die einer umfassenden und qualitativ hochwertigen Versorgung kaum gerecht wird. Tatsächlich müssen wir die Versorgung gesetzlich Versicherter oft durch Einnahmen aus der Behandlung von Privatpatienten querfinanzieren, um wirtschaftlich überleben zu können. Das sollte zu denken geben.

Erschwerend kommt hinzu, dass Krankenkassen wie die AOK die strukturellen Probleme unseres Gesundheitssystems ignorieren. Die Zahl der Krankenkassen in Deutschland – derzeit 95 – ist ein Paradebeispiel für überbordende Bürokratie. Fusionen könnten nicht nur Verwaltungsaufwände reduzieren, sondern auch Einsparungen ermöglichen, die wiederum in die medizinische Versorgung fließen könnten. Stattdessen scheinen viele Kassen primär an der Finanzierung ihrer eigenen Apparate interessiert.

Anstatt Ärztinnen und Ärzte öffentlich zu diskreditieren, sollten die Verantwortlichen, allen voran Frau Reimann, endlich die wahren Herausforderungen angehen: ein nachhaltig finanzierbares Gesundheitssystem, das sowohl Patientinnen und Patienten als auch die medizinischen Fachkräfte gerecht behandelt. Die Rahmenbedingungen müssen so gestaltet sein, dass eine qualitativ hochwertige Medizin auch für gesetzlich Versicherte langfristig gesichert ist – und zwar ohne, dass Ärzte und Kassen gegeneinander ausgespielt werden.

Dr. Rainer Rau, Aalen