Die eigenen vier Wände sollten eigentlich ein geschützter Ort sein. Doch insbesondere für Frauen ist es genau dort am gefährlichsten. Alle 45 Minuten wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner verletzt. Jeden dritten Tag tötet in Deutschland ein Mann eine Intim-Partnerin. Der Sozialpädagoge Mario Stahr arbeitet beim Diakonieverband Ulm/Alb-Donau mit Männern, die ihre Frauen schlagen oder erniedrigen.
Herr Stahr, warum kommt es zu häuslicher Gewalt?
Die Auslöser sind häufig banal. Eine falsch eingeräumte Spülmaschine, oder es sind Dauerthemen wie Streit um Geld oder Eifersucht. Es steckt jedoch viel mehr dahinter. Mangelndes Selbstwertgefühl, eine geringe Frusttoleranz und wenig Gespür für die eigenen Emotionen auf Seiten der Täter. Sie sind leicht gereizt, gestresst und zu wenig Empathie fähig.
Es gibt also einen typischen Täter?
Nein, den gibt es nicht. Die meisten Täter, die zu uns kommen, sind nach außen hin unauffällig und nicht gewalttätig, im Beruf erfolgreich, in der Beziehung aber mit vielen Dingen überfordert. Aber: Häusliche Gewalt ist keine Frage der gesellschaftlichen Stellung, der Herkunft oder Religion. Ein Hilfsarbeiter ist genauso gewalttätig gegenüber seiner Partnerin oder Frau wie ein Akademiker. Täter kommen aus allen Schichten. Nur, dass das Thema in gut situierten Kreisen und im Bildungsbürgertum noch viel mehr unter dem Mantel des Schweigens liegt.
Sie sagen, dass Gewalttätigkeit nicht angeboren, sondern erlernt ist. Gibt es aber gewisse Risikofaktoren?
Der größte Risikofaktor ist, wenn man als Kind oder Jugendlicher selbst Gewalt erlebt hat. Was aber nicht bedeutet, dass jeder, der Gewalt erlebt hat, später auch welche ausübt. Und die Gesellschaft trägt auch ihren Teil dazu bei. Männer wachsen in geschlechterungerechten und patriarchalen Strukturen auf, die ein männlich dominiertes Verhalten fördern oder dem zumindest nichts entgegensetzen.
Das ist heute noch so?
Es gibt eine recht aktuelle Yougov-Umfrage unter jungen Menschen zwischen 18 und 35. Ein Drittel der Befragten findet, dass eine Ohrfeige in einer Beziehung durchaus gerechtfertigt ist.
Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor?
Wir wollen den Männern zeigen, dass sie verantwortlich für ihr Verhalten sind und die Gewalt beenden müssen. Wir erarbeiten mit ihnen in Gruppen- und Einzelgesprächen Strategien, wie sie Konflikte ohne Gewalt lösen können und wir schauen uns an, woran es liegt, dass sie immer wieder gewalttätig werden. Aber erst einmal müssen die Männer lernen, was Gewalt ist, dass es mehr gibt als körperliche Gewalt und was sie mit ihrer Partnerin macht.
Man sagt, Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Wie einsichtig sind die Männer, die zu Ihnen kommen?
Die meisten sehen sich nicht als Täter, oder sie kehren die Schuld um und machen die Frau dafür verantwortlich. Die Taten werden bagatellisiert und verharmlost. Und die Täter erkennen psychische Gewalt nicht als solche an oder nehmen sie nicht als solche wahr. Dabei ist häusliche Gewalt eine Spirale, die oft in körperlicher Gewalt endet. Vorher werden die Frauen angeschrien, abgewertet, erniedrigt, bloßgestellt und bedroht. Manchmal kann es Jahre dauern, bis die Partnerin die Polizei holt, ins Frauenhaus geht und sich Hilfe holt.
Kommen Männer freiwillig zu Ihnen, um an sich zu arbeiten?
Nein, das sind Ausnahmen. Männer kommen zu uns, wenn sie von der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder dem Jugendamt geschickt wurden. Die allermeisten sind Familienväter, weshalb in vielen Fällen das Jugendamt involviert ist.
Für Pädophile gibt es das Angebot „Kein Täter werden“, das freiwillig in Anspruch genommen wird. Warum ist das bei Männern, die häusliche Gewalt ausüben, nicht so?
Da sind wir wieder bei der Einsicht. Wer pädophile sexuelle Straftaten begeht, weiß, dass er eine Straftat begeht. Wer in einer Beziehung Gewalt ausübt, ist sich meistens nicht bewusst, dass er eine Straftat begeht und definiert sie auch nicht so.
Wie lange kommen die Männer zu Ihnen?
Der soziale Trainingskurs geht in der Regel ein Jahr. So lange braucht es auch, bis die Männer einen Weg finden, anders mit Konflikten und Wut umzugehen und keine Gewalt mehr auszuüben. Dann haben sie genügend Strategien an der Hand, um alternativ handeln zu können. Sie haben im besten Fall gelernt, wann und wie ein Konflikt unterbrochen werden muss, damit sich die Gewaltspirale nicht weiterdreht und sind empathiefähiger. Allerdings gibt es auch Männer, die wir nicht erreichen. Wir beenden die Arbeit, wenn ein Täter nach zwei oder drei Sitzungen überhaupt keine Einsicht zeigt. Und auch bei narzisstischen oder psychopathologischen Persönlichkeiten erreichen wir mit Täterarbeit nichts.
Zerbrechen die meisten Beziehungen während der Täterarbeit?
Etwa die Hälfte der Männer, mit denen wir arbeiten, sind noch mit ihrer Partnerin zusammen und wollen es auch bleiben.
Kommen auch gewalttätige Frauen zu Ihnen?
Bisher nicht. Es wäre aber möglich. 80 bis 90 Prozent der häuslichen Gewalt wird von Männern verübt, aber natürlich gibt es auch Frauen, die ihrem Partner gegenüber gewalttätig sind.
Ihre Beratungsstelle ist einzigartig in der Region. Im Kreis Heidenheim gibt es das Angebot nicht.
Nein, es gibt viele weiße Flecken auf der Landkarte, wo keine Täterarbeit angeboten wird und die Männer weite Wege in Kauf nehmen müssen. Das ist ein großes Problem. Denn Täterarbeit ist Opferschutz. Und zwar der Wichtigste. Als Beratungsstelle sind wir eigentlich nur für den Alb-Donau-Kreis zuständig, aber mit der Täterarbeit gehen wir einen Sonderweg und arbeiten auch über den Landkreis hinaus.
Fallzahlen im Kreis Heidenheim
Laut dem Polizeipräsidium Ulm fallen unter den Bereich häusliche Gewalt Körperverletzungen und andere Delikte, die als physischen und/oder psychischen Gewalt gegen das Opfer wie etwa Straftaten auf sexueller Grundlage, Bedrohung oder Stalking. Im Jahr 2022 erfasste die Polizei im Kreis Heidenheim 160 Fälle, 2021 waren es 178, 2020 waren es 149, im Jahr davor 139 und 2018 waren es 96 Fälle.