Amputation und Prothese

Wie Ingrid Gottstein aus Bopfingen ihr Leben mit einem Bein meistert – und anderen in der Region Ostwürttemberg helfen will

25.000 Menschen leben statistisch in Ostwürttemberg mit dem Verlust eines Körperteils. Etwa 400 Fälle kommen pro Jahr dazu. Für sie und ihre Angehörigen hat Ingrid Gottstein die Selbsthilfegruppe für Arm- und Bein-Amputierte Ostwürttemberg gegründet. Sie selbst verlor vor 48 Jahren ihr linkes Bein und sagt: Es geht trotzdem alles, nur eben anders.

Es gibt Dinge, die blendet man im Alltag gerne aus. Die Amputation eines Körperteils gehört mit Sicherheit dazu. Aber: Es passiert jeden Tag. Pro Jahr, so die Selbsthilfegruppe für Arm- und Bein-Amputierte Ostwürttemberg (SHG), werden in Deutschland rund 60.000 Amputationen vorgenommen. In Ostwürttemberg bedeutet das statistisch etwa 400 neue Fälle pro Jahr. Insgesamt leben in der Region mehr als 25.000 Menschen mit dem Verlust eines Körperteils. Hauptsächlich aufgrund von Gefäß- und Krebserkrankungen sowie nach Unfällen. Etwa fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung sind vom Verlust einer Extremität betroffen.

Ein Motorradunfall mit 17 Jahren

So wie Ingrid Gottstein, die die Selbsthilfegruppe 2023 ins Leben gerufen hat. Vor 48 Jahren wurde ihr das linke Bein eine Handbreit oberhalb des Knies amputiert. „Ich war 17 und bin bei einem Freund auf seinem Motorrad mitgefahren“, erzählt sie. „Ein Auto hat uns mit überhöhter Geschwindigkeit überholt, mein Freund wollte nach rechts ausweichen und der Kotflügel des Wagens hat mein Bein abgerissen.“  

„Es gibt kein Alter, in dem eine Amputation nicht schlimm ist“, weiß Ingrid Gottstein. „Aber mit 17, in einem Alter, wo man sich gerade von seinen Eltern löst, ist es richtig kacke.“ Von einem Moment auf den nächsten sei man völlig abhängig von seiner Umwelt. „Man kann im Grunde nichts mehr, außer mit Messer und Gabel essen. Es ändert sich alles.“ Man muss lernen, wie man sich aufsetzt, wie man geht, wie man sich hinsetzt, wie man sich anzieht. „Nichts ist, wie es vorher war.“

Um ihre Erfahrungen zu teilen, hat Ingrid Gottstein die Selbsthilfegruppe gegründet. „Durch die Treffen merkt man, dass man nicht allein mit seinen Problemen ist und es anderen Leuten genauso geht. Das ist sehr wichtig. Wenn man geschieden ist, dann versteht man eine Freundin, die das auch durchmacht, auch besser, als eine Freundin, die glücklich verheiratet ist.“  In der Gruppe geht es auch darum, vor allem frisch Amputierten, Tipps und Ratschläge zu geben. „Ich habe oft erlebt, dass ein Amputierter in eine Klinik zur Reha geschickt wurde, wo man sich mit Prothesen überhaupt nicht auskennt und keine Gehschule gemacht wird. Dabei hat man ein Wunsch- und Wahlrecht. Das wissen viele nicht.“

Es ist pervers, aber für uns Amputierte gibt es nichts Besseres, als einen Krieg.

Ingrid Gottstein

Dazu kommt das Thema Fahrzeugumbau und natürlich die Prothese. „Meine erste Prothese war ein Modell, das im Zweiten Weltkrieg für Kriegsversehrte entwickelt worden war, mit einfachem Scharniergelenk“, erklärt sie. Stand sie damit auf einer Teppichkante oder trat auf einen Legostein, kippte sie einfach nach hinten weg. Erst der Vietnamkrieg und der Falklandkrieg 1982 zwischen Großbritannien und Argentinien brachte eine Weiterentwicklung. „Es ist pervers, aber für uns Amputierte gibt es nichts Besseres als einen Krieg“, sagt Ingrid Gottstein. „Dann werden Prothesen weiterentwickelt, weil es für Unternehmen wirtschaftlich interessant wird.“

Eine computergestützte Prothese für 62.000 Euro

So wurde in den 1980ern eine Prothese mit Bremsknie entwickelt, damit man nicht nach hinten fällt. Und mittlerweile hat Ingrid Gottstein eine Hightech-Prothese, bei der ein Computer im Kniegelenk das Gehen und Schwingen des Beins steuert. Eine solche Prothese kostet laut Gottstein 62.000 Euro. „Eine 80-Jährige bekommt das von der Krankenkasse nicht bezahlt“, erklärt sie. „Es geht immer um den Grad der Mobilität, der von der Person erwartet wird.“

Auch mit einer Prothese ist alles möglich. primipil,stock.adobe.com

Nicht nur bei den Treffen hat Ingrid Gottstein schon oft die Erfahrung gemacht, dass sich die Betroffenen für ihr amputiertes Bein oder ihren amputierten Arm schämen. „Einer Frau wurde vor zwei Jahren das Bein abgenommen. Sie war vorher jeden Tag schwimmen, aber seitdem traut sie sich nicht mehr. Eine andere geht einmal pro Woche einkaufen, aber nur in einer anderen Stadt, wo sie niemand kennt“, beschreibt die 66-jährige Bopfingerin. „Sie haben Angst, angestarrt zu werden. Oder davor, zu sehen, wie schnell und verschämt die Menschen, ihren Blick abwenden. Es passiert auch, dass Eltern ihre Kinder wegziehen, damit sie die Amputation nicht sehen, obwohl Kinder meist gar kein Problem damit haben.“

Amputation – ein mit Scham behaftetes Thema

Den Betroffenen Selbstbewusstsein zu vermitteln, sieht Ingrid Gottstein als ihre Aufgabe und die der Gruppe. „Man muss sich dafür nicht schämen, und wenn die Menschen schauen, dann schauen sie eben. Beim nächsten Mal tun sie es schon kürzer und danach nicht mehr.“ Genau das sei auch ihre persönliche Erfahrung. „Je mehr wir rausgehen, desto normaler wird es für uns und andere. Man sieht einfach zu wenige Menschen mit Amputationen, oder sie verstecken sie unter langen Hosen.“

Das sei heute so und war schon so bei ihrer Beinamputation 1976. „Heute hat man zumindest Vorbilder, wie die Sportler bei den Paralympics, die mit doppelt amputierten Unterschenkeln schneller laufen, als Menschen mit Beinen.“ Früher sei das nicht der Fall gewesen. „Man hat sein Handicap noch mehr versteckt. Wussten Sie, dass der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff eine schwere Kriegsverletzung hatte, durch die eines seiner Beine amputiert werden musste? Ich wusste das nicht.“

Ich wurde als Krüppel bezeichnet (…) das Gerede der Nazis und die Idee vom unwerten Leben, das steckte einfach in den Menschen drin.

Ingrid Gottstein

Und offenbar hatte es auch einen Grund, warum viele ihre Behinderung versteckten. „Ich wurde mehrfach als Krüppel bezeichnet. Die Leute dachten sich damals gar nicht viel dabei.“ Ein Arzt habe kurz nach der Amputation einmal ihre Bettdecke angehoben und gesagt, dass sie so wohl keinen Schönheitswettbewerb gewinnen werde. In den 80er-Jahren, sie machte gerade ihre Ausbildung zur Ergotherapeutin, war sie in einer Fußgängerzone unterwegs. Eine blonde, hochgewachsene Frau mittleren Alters sprach sie an. „Sie sagte, Adolf hätte mich beim Vergasen wohl vergessen. Das Gerede der Nazis und die Idee vom unwerten Leben, das steckte einfach in den Menschen drin.“ Weil ihr bewusst ist, wie mächtig Sprache sein kann, ist ihr das Gendern auch sehr wichtig. Und sie legt Wert darauf, dass man Menschen mit Handicap eben nicht Behinderte, sondern Menschen mit Behinderung nennt. „Am Anfang dachte ich auch, das ist sperrig, aber wir sind in erster Linie Menschen und erst dann kommt die Behinderung.“

Das Wichtigste: Toleranz

Ihre Erlebnisse erzählt Ingrid Gottstein ohne Groll, sondern lachend. Aber es ist kein zynisches, sondern ein fröhliches Lachen. All das hat sie nicht gebrochen, sondern wohl eher stärker gemacht. „Ich bin Widder und wenn mir jemand sagt, dass etwas nicht geht, dann laufe ich zu Höchstform auf.“ Sie hat es geschafft, trotz ihrer Einschränkung ein normales Leben zu führen. „Aber was heißt schon normal? Es ist normal, anders zu sein.“ Und dabei denkt sie nicht nur an Menschen mit Behinderung. „Ob klein, schwarz oder lesbisch – es ist einfach okay, so wie man ist. Integration und Inklusion sind schöne Begriffe und Konzepte, aber das wichtigste ist meiner Meinung nach Toleranz.“

„Es gibt keine Grenzen“

Das Leben von Ingrid Gottstein zeigt, was alles möglich ist – auch nur mit einem Bein. Und auch sie hatte ein Vorbild. „In meiner Reha hielt ein Mann, dem auch ein Bein amputiert worden war, einen Vortrag, den ich nie vergessen werde. Trotz seiner Einschränkung hat er im Himalaya einen 4000er bestiegen. Da dachte ich: Na also, es gibt also doch keine Grenzen.“ Ingrid Gottstein ist mittlerweile in Rente, engagiert sich aber, wie schon während ihres Berufslebens, ehrenamtlich. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und mittlerweile zwei Enkel. Sie macht Qigong, fährt Fahrrad, steigt auf Leitern und hat viele Länder, darunter Kambodscha, Laos und Kuba, bereist. „Das machen andere mit zwei Beinen nicht.“

An diesen Samstagen trifft sich die Gruppe in Aalen

Die nächsten Termine der Selbsthilfegruppe finden am 1. Juni, 21. September, 9. November (alles Samstage) von 14.30 bis 17.30 im Umwelthaus in der VHS Aalen (3. Stock, Unterrichtsraum 2) statt. Auch Angehörige sind willkommen. Ingrid Gottstein bittet um eine vorherige Kontaktaufnahme unter Tel. 0173.30411632 oder per Mail an igottstein@t-online.de. Der Grund: „Es gibt Männer, die Frauen mit Amputationen sexuell erregend finden. So jemanden möchte ich nicht dabeihaben. Daher ist mir eine telefonische Anmeldung wichtig. Die Selbsthilfegruppe soll ein geschützter Raum sein.“ Die sexuelle Präferenz für Menschen mit fehlenden Gliedmaßen wird als Amputationsfetischismus oder Amelotatismus bezeichnet.

Als nächsten Schritt möchte die Selbsthilfegruppe auch frisch Amputierte in Kliniken aufsuchen, um ihnen Mut zu machen und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

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