Ian der Lokomotivführer

Wie sich „Jethro Tull“ in Schwäbisch Gmünd schlug

Unterwegs seit 1968: Die Band „Jethro Tull“ um Frontmann Ian Anderson hat Rockgeschichte geschrieben und machte nun Station im ausverkauften Stadtgarten in Schwäbisch Gmünd. So war's:

Keine Fotos! Und das ist letztendlich nur konsequent. Denn warum sollte sich ein Mann, der sich zeitlebens jedem der musikalischen Trends verweigert, ja ihnen in den meisten Fällen sogar lustvoll zuwidergehandelt hat, sich tausendfach von Handys knipsen lassen wie ein Abendessen oder was die Leute heute sonst noch so unentwegt abbilden. Und dann stelle man sich vor, Taylor Swift würde ihre Fans bitten, während des Konzerts die Finger von Smartphones zu lassen. Die würden sehr wahrscheinlich kollektiv kollabieren.

Bei Ian Anderson aber klappt das. Der Mann, der heute mehr denn je die Personifizierung einer Band mit Namen „Jethro Tull“ darstellt, muss zwei Stunden lang tatsächlich in keinen einzigen Blitz blicken. Nur bei der Zugabe entlädt sich, was allerdings von vornherein erlaubt worden war, ein Gewitter. Aber da passt das dann gar nicht einmal schlecht. Denn von der Bühne stampft „Locomotive Breath“, und auf der Leinwand hinter der Band stampft und dampft eine Lok aus der guten alten Zeit über ausgefahrene Gleise.

Wo alles begann

Ausgefahrene Gleise? Nicht mit Ian Anderson. Auch wenn der inzwischen 77 ist. Der Mann, der über die Jahrzehnte zum kompletten Musiker wurde, denkt nicht einmal im Traum daran, nur routiniert einen Hit nach dem anderen herunterspielen zu lassen. Von den vielen ganz, ganz großen Nummern einer der insgesamt bedeutendsten Bands in der Geschichte der Rockmusik kommen nur ganz wenige. „Locomotive Breath“ zum Schluss hatten wir schon. Dann noch „Too Old to Rock ‚n‘ Roll to Young to Die“ – und „Aqualung“ in einem phantastischen neuen Arrangement, dessen im Bo-Diddley-Beat gehaltenes Intro schon allein das Kommen wert gewesen wäre.

Aus der zweiten oder dritten Hit-Reihe erklangen die auf Johann Sebastian Bachs für Laute komponierte Suite in e basierende „Bourrée“ oder „Songs From The Wood“, „Dark Ages“ oder „Freeway On A Farm“. Das Konzert eingeleitet hatte gewissermaßen der Song, mit dem alles begann: „My Sunday Feeling“, das erste Lied auf der ersten Seite der ersten LP mit Namen „It Was“ aus dem Jahr 1968.

Komplex und kompetent

Ansonsten wurden nicht wenige neue Kompositionen à la „Mine Is The Mountain“ aus den zuletzt erschienen Alben von „Jethro Tull“ gereicht, die sich im Gesamtkatalog der Band beileibe nicht verstecken müssen. Das ist, wie es immer war, auf hohem Niveau: intelligente, hintersinnige, mit reichlich Ironie gewürzte Texte, komplexe Musik von kompetenten Musikern. Und noch viel intensiver zu hören, zu sehen, zu erleben, wenn man nicht versucht, das, was man hört, sieht, erleben sollte, die ganze Zeit über lediglich zu fotografieren versucht.

Mit zum atmosphärisch dichten Gesamtkunstwerk bei trug auch die mit Verstand eingesetzte Videowand, auf der, statt Köpfen oder Gesichtern in Übergröße, erhellendes hinsichtlich der Handlungsrahmen der Songs oder schlicht ein wenig nostalgisch stimmendes Beiwerk zu genießen war, inklusive einiger Konzertaugenblicke aus den alten Tagen, da der Sänger des Ganzen noch ein Jüngling mit lockigem Haar war.

Starke Musiker

Inzwischen ist Ian Anderson in dieser Hinsicht abgegrast und darüber hinaus unterm Strich auch eindeutig besser zu Fuß (sogar bisweilen nach wie vor auf einem Bein) als bei Stimme, was ein wenig schade ist, aber nicht zu ändern. Doch glücklicherweise auch bis zu einem gewissen Grad zu verschmerzen unter dem Eindruck einer das alles umspielenden und bisweilen sogar überspielenden insgesamt grandiosen musikalischen Glanzleistung, zu der ebenso beitrug, dass Ian Anderson, gewissermaßen als Ausgleich, inzwischen weit besser als in den alten Zeiten und heute für seine Zwecke perfekt die Querflöte handhabt.

Nicht von schlechten Eltern, wie gewohnt, auch die Mannen an seiner Seite: David Goodier, ein sehr virtuoser Bassist, Scott Hammond, ein sagenhaft druckvoller Schlagzeuger und wahrscheinlich weder verwandt noch verschwägert mit Jeffrey Hammond-Hammond, dem Bassisten der wilden Tage, Jack Clark, ein großartiger Gitarrist, nicht einmal halb so alt wie sein Bandleader, und last but not least John O’Hara, ein rundum versierter Keyboarder, der selbstverständlich auch Beethovens „Pathétique“ beim langsamen Einheizen für „Locomotive Breath“ zitierend aus dem Ärmel schüttelte. Großer Jubel am Ende für einen alles in allem großen Abend.

„Jethro Tull“ in Heidenheim

Eine Heidenheimer Vergangenheit hat „Jethro Tull“ bekanntlich auch. Im Juni 2008 begeisterte die Band mit Ian Anderson 3500 Besucher hier beim Brenzpark-Festival. Damals schon dabei war Bassist David Goodier. Und damals noch dabei war der Gitarrist der großen Zeiten, Martin Barre.

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