Aufklärung eines wissenschaftlichen Irrtums zwischen Stetten und Lontal
Eigentlich waren Manfred Kubiak und Arthur Penk auf dem Weg nach Stetten ob Lontal, wo für die dortige Wallfahrtskirche im Band für Württemberg und Hohenzollern des im Jahr 1959 erschienenen Deutschen Glockenatlas, gewissermaßen der Bibel der Glockenforschung, eine Glocke aus dem Jahr 1618 verzeichnet ist. Ein Umstand, der es den beiden Glockentestern ermöglicht, hier und jetzt gewissermaßen einen wissenschaftlichen Irrtum aufzuklären.
Dabei hilft ihnen der Ortschronist Kurt Thoma, der sie zusammen mit Dekan Sven van Meegen vor dem Portal der Wallfahrtskirche abfängt. Thoma hält einen Auszug aus dem 1978 erschienenen Buch „Die Kunstdenkmäler des ehemaligen Oberamtes Ulm“ in Händen, das die im Glockenatlas in Stetten verortete Glocke St. Ulrich in Lontal zuschreibt. Eine faustdicke Überraschung. Und es soll nicht die einzige dieses Tages bleiben.
Die Tourkarawane wird also umgeleitet. Es geht nach Lontal – und nach fünfminütiger, kurvenreicher Fahrt ist das neue Ziel der Unternehmung erreicht. Weil anzunehmen ist, dass es im Turm der schmucken kleinen Ulrichskirche, die als letzte richtig gut erhaltene Renaissancekirche Deutschlands gelten darf, recht eng zugehen wird, kommt deshalb erstmals im Rahmen der Serie die Schutzkleidung der Glöckner zum Einsatz. Und so sieht man Penk und Kubiak kurze Zeit später ganz in Weiß und irgendwie ein bisschen à la „Ghostbusters“ über die Dorfstraße Richtung Kirche trotten.
Drinnen geht’s an der Orgel vorbei und über den Dachboden in die Glockenstube hinauf, die, was Glockenstuhl und Glockenjoche anbelangt, ganz in Eiche gehalten ist und wo die Expeditionsteilnehmer nicht nur, wie erwartet, eine Glocke aus dem 17. Jahrhundert vorfinden, sondern tatsächlich gleich zwei.
Bei der ersten und älteren und mit bei einem Durchmesser von 70 Zentimetern schätzungsweise um die 200 Kilo schwereren handelt es sich in der Tat um jene Glocke, die laut Glockenatlas in der Wallfahrtskirche in Stetten hängen sollte. Sie wurde, wie auch in ihrer Inschrift ausgewiesen, im Jahr 1618 gegossen. Und zwar in Ulm von Hans Braun. Der war, wie man sich vielleicht erinnert, unseren Glockenspionen schon einmal über den Weg gelaufen, und zwar als Gießer einer Glocke aus dem Jahr 1616, die ursprünglich auf der Unteren Kirche in Gerstetten gehangen hatte, 1954 aber in Verkennung ihres historischen Wertes vom Kirchengemeinderat dem Gustav-Adolf-Werk geschenkt worden war und seitdem leider verschollen ist.
Die weitere Inschrift zitiert den letzten Vers des Te deums (IN TE DOMINE SPERAVI NON CONFVNDAR IN AETERNVM EFFVDIT; Auf Dich, Herr, habe ich meine Hoffnung gesetzt, in Ewigkeit werde ich nicht zuschanden).
An der Glockenflanke ist bezeichnenderweise St. Ulrich als Bischof abgebildet, und zu Füßen des Heiligen finden sich Schilde mit den Wappen von Rietheim und Wembding. Dazu sollte man wisse, dass das alte Reichsrittergeschlecht derer von Rietheim ab 1358 in Stetten (auch auf der Kaltenburg) saß, 1646 ohne Erben von dort verschwand, aber 1723 in einer anderen Linie wieder zurückkehrte, woraus, auf ein Gelübde zurückgehend, in den Jahren 1732 bis 1735 auch der Bau der Wallfahrtskirche resultiert. Mit der Rückkehr der Rietheim wurde in Stetten ebenso die nach 1646 eingeführte Reformation für beendet erklärt und wieder das katholische Bekenntnis eingeführt, das in Lontal und St. Ulrich übrigens immer gegolten hat.
Mesnerin seit 45 Jahren
Die dort nun „entdeckte“ zweite Glocke ist das Sahnehäubchen auf dieser Tour der Überraschungen. Sie ist nämlich überhaupt nicht im Glockenatlas verzeichnet und hat somit bis dato als historische Glocke gewissermaßen gar nicht existiert. Auch sie wurde in Ulm gegossen, wie ihrer Inschrift zu entnehmen ist: „THEODOSIVS ERNST GOSS MICH IN VLM ANO 1688.“ Die Kronenbügel zieren, ebenso wie bei der Glocke von 1618, die in jener Epoche in Ulm offenbar gern gegossenen Köpfe einer Art Löwenmensch, was hier, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Vogelherd, besonders pikant wirkt. Die jüngere und bei einem Durchmesser von 60 Zentimetern mit 130 Kilo leichtere Glocke fungiert in St. Ulrich auch als Schlagglocke. Geläutet werden können die beiden Glocken während des Besuchs der Glockentester zu deren Leidwesen leider nicht, da die elektrische Läuteanlage der ohnehin nur an wenigen Tagen im Jahr noch geöffneten Kirche, wie uns die hier seit 45 Jahren ihren Dienst verrichtende Mesnerin Sofie Metzler verrät, leider wegen nicht vollständig abgeschlossener Wartungsarbeiten außer Betrieb ist.
Dieser Umstand bringt Arthur Penk und Manfred Kubiak zwar um den Genuss, die Glocken von St. Ulrich in freischwingender Aktion am geraden Holzjoch hörend zu erleben, lässt aber deshalb vielleicht an dieser Stelle eine kleine stumme Abschweifung in Sachen Kopfholz zu. Denn Holzjoche, auch die der beiden Lontaler Glocken, verfügen in der Regel über ein sogenanntes Kopfholz, eine Art Höcker, wenn man so will, der auf das Joch aufgesetzt ist und als Obergewicht fungiert, das den Läuterhythmus, also die Anschlagszahl beeinflusst. Je schwerer das Kopfholz, desto langsamer ist der Läuterhythmus.
Pfarrer Richters Fußmärsche
Und je schneller übrigens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der aus Ellwangen gebürtige Pfarrer Alois Richter unterwegs war, desto häufiger konnte er nicht nur seine Gemeinde in Lontal, sondern auch die Katholiken im fernen Heidenheim betreuen, für die er seit dem Jahr 1865 als Seelsorger zuständig war und die er tatsächlich von Lontal aus zu Fuß besuchte. Erst seit 1883 besteht in Heidenheim die eigenständige katholische Mariengemeinde. In diesem Zusammenhang vielleicht auch interessant: Gewissermaßen als Spätfolge der Reformation wurden im Jahr 1842 in Heidenheim gerade einmal 17 Katholiken (1859 waren es dann schon 200) gezählt, die wie die 12 Katholiken aus Bolheim, die 12 aus Giengen, die 31 aus Königsbronn, die 10 aus Nattheim und die 10 aus Steinheim von der Diözese Rottenburg der Pfarrei Burgberg zugeteilt waren, einer Gemeinde mit damals 1049 katholischen und nur 10 evangelischen Einwohnern.