Wenn Felix alles zu viel wird, dann schreit er. Wenn er genug hat von der Welt um ihn herum. Wenn er überfordert ist von den vielen Reizen, den Menschen, der Lautstärke. Und so war das auch vor einiger Zeit beim Einkaufen im Supermarkt. Der Sechsjährige schrie und ließ sich nicht von seiner Mutter Karina Bär beruhigen. „In der Regel hilft es nur, wenn man ihn aus der Situation, die ihn überfordert, herausnimmt“, sagt die 35-Jährige. Sie ging mit Felix also schnell zur Kasse und wollte bezahlen. „Ein Mann hat dann angefangen, meinen Sohn anzuschnauzen“, beschreibt Karina Bär. „Wenn er mich angebrüllt hätte, wäre es nicht so schlimm gewesen. Dass er meinen Sohn angeschrien hat, hat mich getroffen. Ich war so aufgelöst, dass ich im Auto geweint habe.“
Karina Bär: „Ich will mein Kind nicht verstecken“
Und solche Situationen sind im Leben der Bärs keine Seltenheit, denn Felix ist Autist. „Wir werden oft vorwurfsvoll angeschaut, weil er sich vermeintlich danebenbenimmt“, sagt Karina Bär. „Aber mein Sohn kann nichts für seine Besonderheit und wir als Eltern haben es ohnehin schon schwer, den Alltag mit einem autistischen Kind zu meistern. Solche Konfrontationen und genervten Blicke machen es nicht einfacher. Ich will mein Kind aber nicht verstecken.“
Dass Felix anders ist als andere Kinder, fiel auf, als er etwa zwei Jahre alt war. „Beim Kinderarzt wurde abgefragt, welche Worte er schon sprechen kann“, sagt Karina Bär. „Mir ist klargeworden, dass er eigentlich gar nichts spricht.“ Der Arzt meinte, er sei vielleicht ein Spätsprecher und man solle noch ein paar Monate abwarten. Aber Karina Bär war verunsichert, sie recherchierte auf eigene Faust. Eine Untersuchung im Sozialpädiatrischen Zentrum in Ulm bestätigte dann den Verdacht: Felix hat eine Autismus-Spektrum-Störung. Als die Diagnose dann endgültig von einem Kinderpsychologen gestellt wurde, habe sie geweint. „Aber vor Erleichterung, weil ich endlich wusste, was los war und wir uns darauf einstellen konnten.“
Felix ist sechs und spricht nicht
Denn der Alltag mit einem autistischen Kind ist herausfordernd. Kein Autist ist wie der andere, aber es gibt Merkmale, die in unterschiedlicher Ausprägung häufig bei der neurologischen Entwicklungsstörung vorkommen. Viele haben Schwierigkeiten bei der Kommunikation und zeigen sich wiederholende und stereotype Verhaltensweisen. Felix etwa geht häufig auf den Zehenspitzen, und wenn er sich freut, macht er Flügelbewegungen mit den Armen. Und er spricht bis heute nicht. „Die Ärzte sagen, er könnte sprechen, aber er tut es nicht“, sagt seine Mutter.
Wie die Entwicklung von Felix weitergeht, kann niemand sagen. „Der Zustand kann sich verbessern, aber auch verschlechtern“, sagt Bär. „Wir wissen nicht, ob er irgendwann einmal selbstständig leben kann und seinen Alltag meistern wird, oder ob er immer auf unsere Unterstützung angewiesen sein wird.“
In einen Regelkindergarten oder eine Regelschule zu gehen, sei für Felix nicht möglich. „Mit 20 anderen Kindern in einer Gruppe, das wäre undenkbar“, sagt seine Mutter. Zunächst ging er in die „Schatzkiste“ in Giengen und jetzt besucht er die Pistoriusschule in Herbrechtingen, beides Einrichtungen für Kinder mit erhöhtem Förderbedarf. Da Karina Bär in der Nachtschicht arbeitet, seien die Ferien die größte Herausforderung im Alltag. Auch wegen des Schlafmangels.
Wunsch nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz
Aber: „Wir kommen als Familie gut klar“, sagt Karina Bär. „Ich will mein Kind nicht ändern, er ist perfekt, wie er ist.“ Doch sie würde sich von der Gesellschaft mehr Akzeptanz wünschen. „Felix kann aggressiv werden und um sich schlagen“, sagt Bär. Passiert das in der Öffentlichkeit, bekommt sie regelmäßig und ungefragt Erziehungstipps. Ein fremder Mann habe ihr mal geraten, Felix richtig eine auf den Hintern zu hauen. „Aber Erziehung ist nicht das Problem. Die Leute wissen gar nicht, wie groß der Stress ist, den Felix jeden Tag hat. Sie sollten einen Tag lang mit seinem Kopf leben müssen.“
Auch Ina Hampe weiß nicht, wie viel Unterstützung ihr neunjähriger Sohn Max (Name von der Redaktion geändert) als Erwachsener einmal brauchen wird. Autismus ist angeboren und nicht heilbar. „Aber er verändert sich und je nach Ausprägung können Autisten lernen, wie man im Alltag klarkommt. So wie wir Vokabeln lernen“, erklärt die 41-Jährige. Als Kind braucht Max jedenfalls viel Unterstützung. Das war der Hebamme schon schnell nach der Geburt klar, denn Max war ein Schreikind. Er hatte schon früh Probleme mit Veränderungen, etwa wenn ein Bild in der Wohnung umgehängt wurde. Die Diagnose Autismus bekamen die Hampes aber erst vor etwa eineinhalb Jahren. „Bis dahin waren einfach immer Menschen um Max, die ihn genommen haben, wie er war.“
Max miaut und schlägt um sich
Doch dann kam ein drastischer Hilferuf von Max selbst und die Familie musste sich professionelle Unterstützung suchen. „Kurz nach der Einschulung hat er Suizidgedanken geäußert. Er wollte sich seinen Kopf gegen das Bett hauen, weil er anders sei und keiner ihn verstehe“, schildert Ina Hampe. Zusätzlich zum Autismus leidet Max noch an ADHS. „Das ist ein ständiger Kampf in seinem Kopf.“ Ist er zu vielen Reizen ausgesetzt, miaut er, wird aggressiv, schlägt um sich. In der Schule passe sich Max an, sei wenig auffällig, aber daheim platzt die Überforderung dann regelrecht aus ihm heraus. „Das ist wie niesen oder ein Schluckauf. Eine Zeit lang kann man es unterdrücken, aber nicht auf Dauer.“
Max hat noch zwei jüngere Geschwister und sein dreijähriger Bruder scheint autistisch zu sein. „Wir müssen im Alltag, so gut es geht, Routinen einhalten, sonst läuft es aus dem Ruder“, sagt Ina Hampe. Und wie das aussieht, beschreibt ihr Mann Felix: „Man wird geschlagen, Möbel werden zerlegt, Schimpfworte fallen. Und das kann stundenlang gehen. Man braucht ein dickes Fell und manchmal hilft nur noch eine Kissenschlacht.“
Max isst nur fünf verschiedene Lebensmittel
Dazu kommt die Alltagspflege. Max muss gewaschen und ihm die Zähne geputzt werden. „Er verweigert sich in solchen Alltagssituationen, weil sich Wasser auf der Haut und auf den Schleimhäuten wie Schmerz anfühlt“, sagt seine Mutter. „Viele Autisten habe diese Wahrnehmungsstörung.“ Die Hausaufgaben können sich zu einem regelrechten Machtkampf entwickeln. „Er sollte mal einer Puppe die Haare grün ausmalen, aber er hat sich einfach geweigert, weil eine Puppe nun mal keine grünen Haare hat.“ Solche Diskussionen könnten sich über Stunden hinziehen. Für seine Größe ist Max zu dünn, weil er nur fünf Lebensmittel ist: Pommes, Brezeln, Äpfel, Croissants und selbstgemachte Waffeln. „Für Außenstehende wirkt er wie ein sturer Neunjähriger, aber Erziehung ist nicht das Problem.“
Das alles geht natürlich an die Kraftreserven der Eltern. „Es ist jeden Tag eine Aufgabe“, sagt Ina Hampe. Erschwerend hinzu kommt das Gerangel mit Ämtern. Man müsse alles vielfach nachweisen und sich rechtfertigen für Dinge, die Max eigentlich zustehen. Er braucht Ergotherapie, in Zukunft auch einen Schulbegleiter. Eigentlich, so die Eltern, habe er Anspruch auf einen Schwerbehindertenausweis, der ihm einige Vergünstigungen bringen würde. Das Problem: Er ist zu gut in der Schule. „Max ist nicht direkt hochbegabt, aber ein intelligentes Bürschchen. Und man sieht ihm seinen Autismus eben nicht an“, sagt seine Mutter. „Aber, dass wir uns deshalb rechtfertigen müssen, das ist der Gipfel.“
Die Autismus-Spektrum-Störung
Der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus definiert Autismus als eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Häufig auch bezeichnet als Störung der Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung. Sie zeigt sich in der Regel in frühkindlichen Jahren und beeinträchtigt die soziale Interaktion, die Art zu kommunizieren und einige Verhaltensmuster. Es wird zwischen Frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischem Autismus unterschieden. Die Unterscheidung fällt in der Praxis jedoch immer schwerer, da zunehmend leichtere Formen der einzelnen Störungsbilder diagnostiziert werden. Daher wird heute der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) als Oberbegriff verwendet. Man geht davon aus, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung im Autismus-Spektrum ist.