Die Frau, die da vor einem sitzt, ist eigentlich eine gestandene Frau: Sie ist verheiratet, hat Kinder großgezogen, beruflich Dinge erreicht, auf die sie sichtlich stolz ist. Doch wenn sie erzählt, was sie in den vergangenen zwei Jahren erlebt hat, dann wirkt sie zwischendurch wie eine gebrochene Frau – auch wenn sie betont, dass sie keinesfalls als Opfer gesehen werden will.
Sie ist die Sontheimer Rathausmitarbeiterin, die Anfang 2024 Anzeige gegen einen ihrer Kollegen erstattet hatte: wegen frauenfeindlicher und rassistischer Beleidigungen, wegen Nötigung, wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.
Dieses Verfahren - am Ende blieb nur der letztgenannte Vorwurf übrig - wurde nach monatelangen Ermittlungen eingestellt. Nicht etwa, weil dem Mann nichts nachgewiesen werden konnte, sondern unter anderem aus „prozessökonomischen Gründen“ (Staatsanwaltschaft Ellwangen). Der Mann musste eine Geldauflage in Höhe von 3000 Euro bezahlen.
Der Frau – sie selbst möchte „Anzeigeerstatterin 1“ genannt werden – konnte bislang niemand erklären, warum das so ist. Zumindest nicht so, dass sie es hätte nachvollziehen können. Warum sie nicht vor Gericht erzählen durfte, was ihr widerfahren ist. Und warum die Zeuginnen und Zeugen, die das hätten bestätigen können, es teilweise gegenüber der Kriminalpolizei sogar schon bestätigt hatten, ebenfalls nicht öffentlich aussagen durften.
Umkehr von Täter- und Opferrolle
„Was mich so schockiert hat, war die Aussage des Richters und der Staatsanwaltschaft im Zeitungsartikel im Februar, der Mann sei schon gestraft genug, weil er seinen Job verloren habe“, sagt die Frau. Für sie und die anderen Betroffenen eine klare Umkehr von Täter- und Opferrolle. Der „halben Rathausbelegschaft“ habe man die Aussage vor Gericht ersparen wollen, hieß es damals vonseiten der Staatsanwaltschaft. Wem genau man hier etwas ersparen wollte, bleibt offen.
Denn ein paar Zeuginnen und Zeugen erzählen nun eben nicht vor Gericht, sondern gegenüber der HZ von den monatelangen Schikanen im Sontheimer Rathaus. Davon, wie der betreffende Mitarbeiter nahezu täglich den Hitlergruß gezeigt habe. Wie er Afrikaner mehrfach gegenüber Dritten als „Nigger“ bezeichnet habe, Türkischstämmige als „Kanacken“ und wie er gedroht habe, bei der nächsten Ankunft von Geflüchteten in einem Sontheimer Flüchtlingsheim, mit „einer AK 47“ vorbeizuschauen. Wie er sich vor Kolleginnen bis auf die Unterwäsche ausgezogen, Vorgesetzte wie Kollegen beleidigt und im Büro laut rechtsradikale Musik abgespielt habe. Als „reinen deutschen Blutes“ habe er sich bezeichnet – im Gegensatz zu seinen türkischstämmigen Kolleginnen.
All diese Vorfälle können diese Zeuginnen und Zeugen bestätigen, wenngleich der Mann sie gegenüber der HZ schon im Frühjahr bestritten hatte und eine Anfrage über seinen Rechtsanwalt nun unbeantwortet ließ. Sie alle erinnern sich unabhängig voneinander an solche Vorkommnisse und vor allem: Sie sagen, sie hätten sich hilfesuchend und am Ende vergeblich an die Sontheimer Rathausspitze gewandt – auch und insbesondere an Bürgermeister Tobias Rief.
Ehemaliger Mitarbeiter spricht von "chaotischen Zuständen" im Rathaus
Andreas Hintermaier beispielweise hatte im Oktober 2022 die Stelle als stellvertretender Bauamtsleiter in Sontheim angetreten. Bis Juli 2023 war er dort: „Diese Monate würde ich gerne aus meinem Leben herausstreichen“, sagt er, der kein Problem damit hat, namentlich genannt und zitiert zu werden: „Ich stehe hinter allem, was ich sage. Es ist die Wahrheit.“ Hintermaier berichtet von „chaotischen Zuständen“ im Rathaus.
Er erzählt davon, wie der in dem Verfahren beschuldigte Mann sich „aufführen durfte wie die Axt im Walde“. Als man im Bauhof nicht mehr mit ihm klargekommen sei, sei er Gebäudemanager als Teil des Bauamts geworden. Als man im Bauamt nicht mehr mit ihm klargekommen sei, habe man ihn dem Hauptamt unterstellt. Genau wie Bürgermeister Rief, so Hintermaiers Vorwurf, habe auch der Hauptamtsleiter Martin Hofman den Mann weitestgehend gewähren lassen – egal, wie bunt er es getrieben hat. Dazu habe auch zu seiner Zeit schon das regelmäßige Zeigen des Hitlergrußes in den Räumen des Sontheimer Bauamts gehört.
Diese Monate würde ich gerne aus meinem Leben herausstreichen.
Andreas Hintermaier, ehemaliger stellvertretender Bauamtsleiter
Hintermaier hielt es irgendwann nicht mehr aus und verließ die Sontheimer Verwaltung Mitte 2023. „Ich hatte erst vor Kurzem ein Haus gebaut und trotzdem fiel es mir nicht schwer“, sagt er. Er sei gerne und aus Überzeugung gegangen. Mit seiner von den Schikanen besonders betroffenen Kollegin hielt er weiterhin Kontakt und riet ihr am Ende auch dazu, endlich Anzeige zu erstatten.
Kurz bevor Hintermaier ging, Anfang 2023, hatte die „Anzeigeerstatterin 1“ ihre Position gewechselt. Zwei Jahrzehnte lang hatte sie zuvor schon für die Sontheimer Verwaltung gearbeitet, allerdings nicht im Rathaus selbst. Nachdem sie ihre Kinder großgezogen hatte, habe sie die Chance auf eine Vollzeitstelle ergreifen wollen. Mit drei weiteren Kolleginnen und Kollegen habe sie fortan in einem Büro gearbeitet.
Zweite Frau erstattete Anzeige
Einer dieser Kollegen war besagter Gebäudemanager. Schon kurz danach sei es an der Tagesordnung gewesen, dass der Mann den Hitlergruß gezeigt und sich rassistisch geäußert habe – auch gegenüber einer eigentlich besonders schützenswerten Auszubildenden. Auch sie verließ das Rathaus Anfang 2024 aufgrund der anhaltenden Schikanen, obwohl sie eigentlich gerne in ihrem Job weitergearbeitet hätte. Auch sie erstattete im vergangenen Frühjahr Anzeige gegen den Mann.
Schon im August 2023 habe „Anzeigeerstatterin 1“ alle Vorfälle an Bürgermeister Tobias Rief gemeldet. „Schon die Hälfte dessen, was sich der Mann bis dahin geleistet hatte, hätte für eine fristlose Kündigung gereicht“, sagt sie. Doch das sei nicht passiert. Im Gegenteil: Bürgermeister Rief habe sie mehrfach an ihre Verschwiegenheitspflicht bezüglich der Vorgänge im Rathaus erinnert. Ganz besonders eindringlich in einer Zeit, in der noch eine mögliche Kandidatur des Sontheimer Bürgermeisters für die SPD-Fraktion im Heidenheimer Kreistag im Juni 2024 im Raum stand.
Schon die Hälfte dessen, was sich der Mann bis dahin geleistet hatte, hätte für eine fristlose Kündigung gereicht.
"Anzeigeerstatterin 1"
Das alles sind massive Vorwürfe, die sich nicht nur gegen irgendeinen Arbeitgeber richten, sondern gegen den demokratisch gewählten Bürgermeister einer Gemeinde. Was ist während dieser besagten Monate in Sontheim passiert? Wurden die Vorkommnisse im Rathaus von der Führungsebene nicht richtig wahrgenommen? Wurden sie nicht ernst genommen? Warum wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht geschützt? Warum wurde der Mann nicht sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe aus dem Dienst entfernt?
Bürgermeister Tobias Rief verweist auf Datenschutz
Die HZ hat sowohl den Hauptamtsleiter Martin Hofman als auch Bürgermeister Tobias Rief mit den Vorwürfen konfrontiert. Hofman verweist in der Sache direkt an Rief. Der Bürgermeister wiederum möchte mit Verweis auf „den besonderen Vertrauens- und Datenschutz" in Personalangelegenheiten nicht auf die Fragen antworten.
Die betroffene Frau jedenfalls hatte zuletzt Angst, zur Arbeit zu gehen. Angst, dass auf die psychische und seelische Gewalt, der sie tagtäglich ausgesetzt war, auch körperliche Gewalt folgen könnte – gerade, nachdem sie sich im August 2023 über den Mann beschwert hatte. Sie: zierlich und keine 60 Kilo schwer. Ihr Kollege: großgewachsen und kräftig. Bis Ende November 2023, sagt sie, saß sie mit ihm noch im selben Büro – abends sogar alleine. Ihrer Bitte auf eine räumliche Trennung sei lange nicht nachgekommen worden. „Ich habe Herrn Rief dann angefleht, mich bis zur Klärung der Vorfälle freizustellen – unentgeltlich.“ Doch auch das habe man ihr verwehrt. Seit Frühjahr 2024 ist sie krankgeschrieben.
Von ihrem Dienstherrn habe sie seitdem nichts gehört: kein Wort des Bedauerns, kein Nachfragen nach ihrem Zustand. Auf die Bitte nach einem Gespräch über Möglichkeiten zur Wiedereingliederung, habe man ablehnend reagiert. Dabei hätte sie einen rechtlichen Anspruch darauf. Nur Ende vergangenen Jahres kam plötzlich Post vom Sontheimer Rathaus: Es war die Einladung zur Weihnachtsfeier.
Tage nach dieser Feier erhielt „Anzeigeerstatterin 1“ ein Gruppenfoto, das dort entstanden war: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Sontheimer Rathauses – lächelnd, teilweise mit Nikolausmützen. In der hintersten Reihe steht der Mann, den sie angezeigt hatte. Er arbeitet nun nicht mehr im Sontheimer Rathaus. Ob er entlassen wurde oder gekündigt hat, ist nicht bekannt.
Die Frau, die ihn angezeigt hat, zieht jedenfalls eine bittere Bilanz. Am Ende habe sie vor allem einen Fehler gemacht: sich zu lange darauf verlassen, dass ihre Vorgesetzten einschreiten und ihr helfen würden. Eine schmerzhafte Lektion.
Kein Personalrat in Sontheim
Was Betrieben in der freien Wirtschaft der Betriebsrat ist, das ist der Personalrat für die Verwaltungen im öffentlichen Dienst. Ein solcher vertritt die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – im Konfliktfall auch gegen den Dienstherrn. Die Gemeinde Sontheim hätte eigentlich genügend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um einen Personalrat gründen zu können. Die Gründung eines solchen Gremiums geschieht auf Initiative der Mitarbeiter. Laut der Gewerkschaft Verdi haben die meisten öffentlichen Verwaltungen in Deutschland einen Personalrat. Keinen zu haben, bilde die Ausnahme, heißt es auf Nachfrage.