Leserbrief

Ein Juwel barocker Dichtkunst

Zum geänderten Liedprogramm beim Steinheimer Kinderfest

Ein Juwel barocker Dichtkunst

Das „Sommerlied“ des neben Luther bedeutendsten evangelischen Liederdichters Paul Gerhardt erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Nicht umsonst zählt es im aktuellen Lehrplan für die Grundschule zu den vorgeschlagenen Lernliedern. In Steinheim sieht man’s mehrheitlich anders. Auf Bitten des Kollegiums der Hillerschule wurde „Geh aus, mein Herz und suche Freud“ durch Gemeinderatsbeschluss aus dem traditionellen Ablauf des Kinderfestes gestrichen. Die eingesetzte „Arbeitsgruppe“ bescheinigt: „nicht mehr zeitgemäß“!

Man fragt sich unwillkürlich: Was an diesem Juwel barocker Dichtkunst ist nicht mehr zeitgemäß? Sich zur Freude zu ermuntern? Die Natur als Gottes Schöpfung zu begreifen? Sich selbst als Gottes „schöne Blum‘“ wahrzunehmen? Die Hoffnung auf eine himmlische Welt zu wecken angesichts einer wunderbaren Schöpfung? Nicht zugleich und vor allem über gegenwärtige Naturzerstörung zu klagen? (Zu Letzterem stünde immerhin eine originelle Umdichtung aus den frühen 1980er-Jahren zur Verfügung.)

Würde das Urteil der „Arbeitsgruppe“ greifen, das sich der Gemeinderat in Mehrheit zu eigen gemacht hat, müsste die Schulträgerin schleunigst auch den Namen der Schule ändern. Schließlich nannte man Philipp Friedrich Hiller nicht umsonst den „schwäbischen Paul Gerhardt“. Seinem beinahe hundert Jahre älteren Vorbild war Hiller in theologischer Hinsicht engstens verbunden. Wieso am Namen des größten Sohnes der Gemeinde festhalten, wenn sein Geist längst aus dem Rathaus gewichen ist? Nicht nur das Prägen von Traditionen, sondern auch deren bewusste Auflösung ist eine weltanschauliche Entscheidung.

Gerade auch wenn sich uns Traditionen von unseren Verstehensvoraussetzungen her nicht mehr unmittelbar erschließen, erweisen sie sich besonders dann als wertvoll, wenn sie ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringen, das unseren Horizont erweitert, begründet Freude vermittelt, stärkt und Mut macht. Aufgabe der Pädagogik wäre, den Kindern solche Vorstellungswelten nahezubringen.

Pfarrer Dr. Joachim Kummer, Giengen