Leidet der Steinheimer Angeklagte an Schizophrenie?
Es war ein ungewöhnlicher erster Verhandlungstag am Landgericht in Ellwangen mit einigen Verzögerungen und Unterbrechungen: Zeugen, von denen keiner weiß, wo sie mittlerweile wohnen, ein mutmaßliches Opfer, von dem seit zwei Wochen jede Spur fehlt und ein Beschuldigter, der aller Voraussicht nach nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden wird – auch wenn er die Tat begangenen hat.
Es geht um die Nacht auf den 9. Mai 2023: Gegen 4 Uhr soll der 31 Jahre alte marokkanische Staatsbürger in der Asylbewerberunterkunft auf der Oberen Ziegelhütte nach einem Streit einen 23-Jährigen, ebenfalls Marokkaner, geschlagen, getreten und mit einer Schere und einem Messer verletzt haben. Danach soll er in ein Waldstück geflohen sein, wo er erst gegen 6 Uhr morgens von der Polizei festgenommen werden konnte.
Stich in den Nacken anstatt einer Entschuldigung
Was dem Mann genau vorgeworfen wird, geht aus der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft hervor: Die beiden Männer waren schon zuvor in Streitereien geraten, die nicht nur verbal ausgetragen wurden. Auch in der Tatnacht gegen 2 Uhr. Wenig später klopfte der Angeklagte an die Zimmertür seines späteren Opfers, angeblich um sich zu entschuldigen. Stattdessen, davon geht die Staatsanwaltschaft aus, griff der Beschuldigte nach einem mitgebrachten Küchenmesser oder einer Schere und stach damit seinem Opfer in den Nacken, als dieses ihm den Rücken zudrehte. Mit dem Messer, der Schere, mit Schlägen und Tritten soll er den 23-Jährigen massiv im Gesicht und an den Händen verletzt, ihn danach ein Stockwerk tiefer gezerrt und ihn dort im Flur weiter malträtiert haben.
Zeugen und das Opfer selbst berichten der Polizei später, der Mann habe dabei abwechselnd gelacht, getänzelt, dann wieder geweint. Während sein Opfer vor ihm auf dem Boden lag, habe der 31-Jährige seinen Bruder per Videotelefonie angerufen, sein Opfer gefilmt und gesagt: „Diesen Mann werde ich töten.“
Opfer seit zwei Wochen verschwunden
Dazu kam es nicht: Der blutende 23-Jährige nutzte wohl einen Moment der Unachtsamkeit seines Peinigers und floh aus der Unterkunft, wo er auf die von einer Zeugin gerufenen Polizeibeamten traf.
Selbst vor Gericht von den Vorkommnissen berichten konnte er am Mittwoch nicht: Seit zwei Wochen fehlt von dem Mann jede Spur. Sein Handy ist ausgeschaltet, auch Mitarbeiter der Asylbewerberunterkunft in Steinheim wissen nicht, so sich der Mann befindet. Sämtliche Kontaktversuche seines Anwalts, der ihn als Nebenkläger vertritt, blieben erfolglos.
Auch die Aussage des Angeklagten konnte nur wenig zur Klärung beitragen: Mit brüchiger Stimme und teils unter Tränen erzählte er, dass er sich zwar vage an die Auseinandersetzung erinnern könne, auch daran, sein Opfer verletzt zu haben. Details aber seien weg. Nur eines wisse er sicher: Töten wollen habe er den Mann nicht: „Hätte ich das gewollt, dann hätte ich es getan.“ Von einer Verschwörung gegen ihn berichtete er auf Nachfrage des psychiatrischen Gutachters. Auch der Islamische Staat soll damit in Zusammenhang stehen. Schon in Marokko sei er „von Agenten“ ausspioniert worden. Wie, wer, warum? Auch das blieb unklar.
Angeklagter ist in Psychiatrie untergebracht
Die Aussagen des Angeklagten werden am Ende sicherlich das stützen, was der psychiatrische Gutachter schon angedeutet hatte und weshalb es in dem Prozess wohl nicht um die Verurteilung zu einer Haftstrafe gehen wird: Der Mann leidet offenbar an einer psychischen Erkrankung. Das Gericht muss deshalb entscheiden, ob er weiterhin in einer Psychiatrie untergebracht wird bis ein Gericht irgendwann einmal feststellen kann, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht. Der psychiatrische Gutachter wird am Freitag seine Aussage dazu machen.
17 Stich- und Schnittverletzungen, aber keine Tötungsabsicht?
Das Gutachten des Rechtsmediziners machte deutlich, wie heftig der Angriff auf das Opfer gewesen sein muss. Der 23-Jährige wies zahlreiche Stich und Schnittverletzungen auf, allein elf bis zwölf im Gesicht, vier an den Händen und einen Stich im Nacken. Die mutmaßlichen Tatwerkzeuge, ein kleines Küchenmesser und eine Schere, passen laut Gutachten zu den Verletzungen. Eine akute Lebensgefahr habe sich aus den Verletzungen nicht ergeben. Unter Vorbehalt sagte der Gutachter, dass anhand des Verletzungsbildes nicht unbedingt von einer Tötungsintention ausgegangen werden kann. Die Narben aber werden das Opfer Zeit seines Lebens entstellen.