Auch wenn sie sich derzeit immer wieder Angriffen ausgesetzt sehen mag: Wir haben das Glück, in einer Demokratie zu leben. Wie das Leben in und unter einer Diktatur aussieht, wie sie sich anfühlt und wie sie nach und nach alles enger und dunkler macht, können sich die meisten heutzutage glücklicherweise nur schwer vorstellen. Nun ist aber ein Buch erschienen, das einen solchen direkten Einblick ermöglicht. Kein Geschichtsbuch aus der Feder von Historikern, sondern Gedanken eines einfachen Steinheimer Mannes namens Karl Maier.
Als Adolf Hitler an die Macht kommt, ist der Weber und Landwirt 51 Jahre alt, hat den Ersten Weltkrieg als Soldat überlebt und in Steinheim eine Familie gegründet. 1934 beginnt er, Tagebuch zu schreiben und die Ereignisse um ihn herum zu hinterfragen und zu kommentieren. Entdeckt worden sind diese Aufzeichnungen vor drei Jahren von seinem Enkelsohn, transkribiert, bearbeitet und veröffentlicht wurden sie nun von Karl-Heinz Kocka.
Wie die Diktatur das Leben übernimmt
Karl Maier beschreibt in seinen Aufzeichnungen eindringlich, wie sich die Diktatur in sein Leben schleicht, wie sie in sämtliche Bereiche des Alltäglichen eindringt: in die Gemeinde, in die Lokalpolitik, in die Vereine, in die Presse, in die Arbeitswelt und in die Kirche. Maier kritisiert und er kommentiert. Aus nahezu jeder Zeile spricht ein enorm wacher Geist, der wahrnimmt, was um ihn herum geschieht, der all das einordnet und sehr früh bemerkt, dass die angeblichen Wahrheiten dieser NS-Diktatur in Wirklichkeit nichts als Lug und Trug sind.
Deutlich wird Karl Maiers Scharfsinn beispielsweise dann, wenn er Hitlers „Mein Kampf“ kommentiert. Das Buch hatte er ausgeliehen – für einen Kauf ist dem Schwaben das Geld zu schade. Er schließt seine Kommentierung mit einem Gedicht und mit für den Juni 1936 nahezu prophetischen Worten: „Die Regierung Hitler sitzt zurzeit fest im Sattel. Sie wird aber durch einen Krieg, der ja kommen muss, mit seinem Programm wieder verschwinden. Fanatiker gehören niemals an eine Regierung. Sie bringen nur Elend über ein Land und Volk.“
Karl Maier über „Mein Kampf“ und die Röhm-Morde
Scharfzüngig zerpflückt Maier nicht nur „Mein Kampf“, sondern auch die Reden Hitlers oder Ereignisse wie beispielsweise die Röhm-Morde (von den Nazis als „Röhm-Putsch“ bezeichnet). Dabei zieht er die Parallele zum Hitlerputsch 1923: „Auch hat er (Hitler) meiner Ansicht nach ein ganz kurzes Gedächtnis, denn wenn am 9.11.23 ebenso (mit Hitler) gehandelt worden wäre, was ja leider nicht der Fall war, so wäre uns schon bis jetzt vieles erspart geblieben.“
1936 unterbricht Karl Maier seine Aufzeichnungen. Warum, erklärt er 1943, als er sie fortsetzt: Mit der Diktatur hatte sich auch die Angst ins Leben des Steinheimers geschlichen. Aus der Angst, frei zu sprechen, wurde die Angst, frei zu schreiben und dabei entdeckt zu werden. Doch 1943 erscheinen die Kriegsartikel von Joseph Goebbels und der wache und kritische Geist Maiers bricht erneut aus dem „einfachen Mann“ heraus. Man spürt es förmlich beim Lesen: Er konnte nicht mehr anders.
Denn plötzlich kommt zur Scharfsinnigkeit, zur Scharfzüngigkeit, zum Sarkasmus aus der Mitte der 1930er-Jahre etwas anderes hinzu: Wut. Die Wut darüber, dass Hitler einen Krieg herbeigeführt hat, in dem es nur Verlierer geben kann. Zu diesen gehört natürlich auch Maier, der mindestens zwei Söhne an der Front verlieren wird.
Maier spricht in seiner Kommentierung der Kriegsartikel Joseph Goebbels direkt an, verächtlich nennt er ihn nur bei seinem Vornamen, fragt ihn, wie viele Menschen noch geopfert werden sollen. All das, was Maier nach Jahren der NS-Diktatur und des Krieges im Herzen trägt, bricht sich nun auf Papier Bahn – er schreibt es, weil er es nicht aussprechen kann: „Diese Thesen, die ich da kritisiert habe, geben mir den Mut. Mag kommen, was auch will, trotz Gefahr schreibe ich wieder weiter an meinem Tagebuch. Steinheim im Februar 1943.“
Was danach folgt, sind Beschreibungen der zerstörerischen Luftangriffe, der schlimmen Nachrichten von der Front, der wahnhaften Unbelehrbarkeit der Nazis. Nicht mehr nur die Diktatur ist in Maiers Leben eingedrungen, sondern nun auch endgültig der Krieg.
Ein großes Glück
Die Aufzeichnungen Karl Maiers, seine Tagbucheinträge während der NS-Zeit und seine Gedichte nach deren Ende sind ein Lehrstück und es ist ein großes Glück, dass sie gefunden und veröffentlicht wurden. Derzeit werden sie überarbeitet, um sie künftig als Unterrichtsmaterialien im Geschichtsunterricht an den baden-württembergischen Gymnasien verwenden zu können. Sie zeigen, wie wichtig es ist, kritisch zu bleiben, kritisch zu denken, selbst zu denken. Nicht alles zu glauben, was als Wahrheit präsentiert wird. Nicht jedem Rattenfänger hinterherzulaufen, der scheinbar einfache Lösungen für komplexe Probleme bietet. Insofern sind Karl Maiers Gedanken und Aufzeichnungen auch für all jene geeignet und empfohlen, die den Geschichtsunterricht bereits lange hinter sich haben.
Wer war Karl Maier?
Karl Maier wurde am 27. Dezember 1881 in Steinheim geboren. Wie sein Vater Wilhelm lernte er das Handwerk des Webers. 1910 heiratete er die Söhnstetterin Barbara Wagner und wurde später Vater von insgesamt zehn Kindern. Drei davon starben früh.
Karl Maier wurde 1916 an die Front nach Frankreich geschickt, wo er bis 1918 als Soldat diente. Nach dem Ersten Weltkrieg bekam er eine Anstellung bei der WCM in Heidenheim, wobei er jeden Tag zu Fuß zur Arbeit ging. Alle vier Söhne mussten im Zweiten Weltkrieg an der Front kämpfen, zwei starben: Wilhelm fiel 1942 in Russland, Hans fiel 1944.
Karl Maier liebte das Singen und die Musik, war mehr als 50 Jahre lang im Gesangsverein und 25 Jahre lang im Musikverein. Von seinen Kindern leben heute noch zwei Söhne und zwei Töchter. Karl Maier starb am 20. Juni 1963 und wurde zwei Tage später auf dem Steinheimer Friedhof beigesetzt.