Am 8. November 1939 verübte der Schreiner Georg Elser im Münchner Bürgerbräukeller ein Attentat auf Adolf Hitler. Nur wenige Kilometer entfernt von Elsers Wohnort Königsbronn, in Steinheim, lebte damals der Weber und Landwirt Karl Maier, ähnlich wie Elser ein „einfacher Mann“ und genau wie Elser ein kritischer Geist. Das beweisen Tagebucheinträge und Gedichte Maiers aus den Jahren 1934 bis 1945.
Diese Aufzeichnungen Karl Maiers wurden nun als Buch veröffentlicht. Dass das überhaupt möglich war, ist einem großen Zufall zu verdanken. Der passierte vor etwa drei Jahren: Karl-Heinz Kocka ist Diplom-Theologe und transkribiert Werke in Kurrent- und Sütterlinschrift aus Archiven und Nachlässen. Nach einem Umzug von Heidenheim nach Wasseralfingen mussten in seiner neuen Bleibe Türen ausgetauscht werden. Dafür beauftragte Kocka ein Heidenheimer Unternehmen, dessen Chef beim Maßnehmen in Wasseralfingen Sütterlin-Schriften auf Kockas Schreibtisch entdeckte. „Einige Wochen später kam der zuständige Monteur, um die Türen einzubauen. Er gab mir 15 Papierbündel und frage, ob ich das lesen und übersetzen könne“, erzählt Kocka. Der Monteur war der Enkel von Karl Maier, der die Aufzeichnungen seines Großvaters im Schreibtisch des Vaters entdeckt hatte.
Kocka willigte ein und begann mit der Transkription. Schon bald wurde ihm klar, welche Bedeutung die Dokumente hatten, die da vor ihm lagen. „Was ich da las, war emotional sehr anrührend und ging unter die Haut. Ich musste regelmäßig nach einer Stunde abbrechen“, erzählt Kocka. Je mehr er von Karl Maier las und je mehr er transkribierte, desto klarer wurde ihm, dass die Schriften veröffentlicht werden müssten: „Ich dachte mir, dass das perfekt für den Geschichtsunterricht in der Oberstufe wäre“, erzählt Herausgeber Kocka. „Die Dokumente transportieren Emotionen, nicht das bloße Faktenwissen.“
Einen Schatz ausgegraben
Ganz ähnlich sah das offenbar auch der Historiker Prof. Dr. Wolfgang Benz, den Kocka beim Fachtag Geschichte in der Königsbronner Hammerschmiede traf: „Er sah sich die Schriften an und fragte mich, ob ich denn wüsste, welchen Schatz ich da ausgegraben hatte.“ Das wusste Kocka, und er setzte alle Hebel in Bewegung, dass dieser Schatz auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann – natürlich mit Zustimmung von Maiers Nachfahren. Dafür mussten die Schriften aber überarbeitet werden: „Das Original-Manuskript hatte weder Punkt noch Komma“, erklärt der Herausgeber. „Maier hatte nur die damals übliche siebenjährige Volksschulbildung. Er war Schwabe und schrieb Hochdeutsch so wie er dachte, dass es klingen musste.“ Das aber kann nicht schmälern, welcher Intellekt in dem Steinheimer Weber gesteckt haben musste.
„In gewisser Weise war er knitz“, sagt Kocka und verwendet damit selbst einen urschwäbischen Begriff, der das Schlaue und Gewitzte meint. „Er hat viel und reflektiert gedacht, stand der Sozialdemokratie nahe, war politisch interessiert. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren ihm wichtig.“ Doch offen zu sagen, was er dachte, konnte sich Maier wie so viele andere in dieser Zeit nicht leisten. Das galt irgendwann auch fürs Schreiben: Seine Aufzeichnungen stoppte er 1936 aus Angst, seine Manuskripte könnten entdeckt werden. Erst 1943 begann er wieder zu schreiben: „Da hat es ihn offenbar fast zerrissen, nachdem die Kriegsartikel von Joseph Goebbels erschienen waren. Da konnte er nicht mehr anders.“
Elser spielt keine große Rolle
Nun lebte Karl Maier nur ein paar Kilometer entfernt vom Königsbronner Georg Elser. Erwähnung findet dieser in Maiers Schriften aber nicht wirklich. „Er hatte die lokale Nähe zu Elser“, sagt Engelbert Frey von der Georg-Elser-Gedenkstätte in Königsbronn, die das Buch-Projekt finanziell und logistisch unterstützt. „Anders als Elser war Maier aber kein Solist, kein Einzelkämpfer. Maier hatte Familie.“ Zehn Kinder hatte der Steinheimer, drei davon starben früh. Zwei Söhne fielen im Krieg, das Schicksal zweier weiterer war bis zum Ende seiner Aufzeichnungen ungewiss. Aus Verantwortung seiner Familie gegenüber konnte und wollte Maier wohl nicht so handeln, wie er dachte und fühlte.
Die Hoffnung aller am Buch Beteiligten ist, dass Karl Maier als gutes Beispiel für einen kritischen Geist dienen kann. Die Aufzeichnungen werden derzeit zum Unterrichtsmaterial aufbereitet. Für Josef Seibold von der Elser-Gedenkstätte ist klar, was die jungen Menschen daraus lernen sollen: „Das eigenständige Denken“, sagt der ehemalige Lehrer: „Auch heute, vielleicht gerade heute, kann man nicht alles glauben, was man hört.“ Propaganda zu durchschauen, so Seibold, sei oft eine intellektuelle Höchstleistung.
Karl-Heinz Kocka glaubt, dass die Aufzeichnungen Maiers eine Möglichkeit sind, Eindrücke aus der Zeit des Nationalsozialismus nachhaltig in der Erinnerung zu verankern. „Das typische Faktenwissen aus der Schule wird meist wieder vergessen, sobald es abgefragt worden ist“, sagt er. Für die Worte des Steinheimers Karl Maier, vom Herzen über die Feder direkt aufs Papier, gilt das möglicherweise nicht.
Buchvorstellung in Steinheim
Am Mittwoch, 13. November, wird das Buch „Sie lügen und betrügen“, um 19.30 Uhr im Manfred-Bezler-Saal des Steinheimer Rathauses vorgestellt. Saalöffnung ist um 19 Uhr. Nach einer Einführung von Bearbeiter und Herausgeber Karl-Heinz Kocka wird Oliver von Fürich aus dem Buch lesen. Musikalisch wird die Vorstellung von der Gruppe Freywolf aus Königsbronn untermalt. Der Eintritt ist frei, um Spenden wird gebeten.
Erhältlich ist „Sie lügen und betrügen“ (ISBN: 978-3-8187-0208-3) über die Eigenverlagsplattform „epubli“. In Druckform erhältlich sind aktuell 250 Exemplare, bestellt werden kann das Buch derzeit auch bei der Georg-Elser-Gedenkstätte in Königsbronn.