Manche Geschichten erwachsen gleichsam aus dem Nichts. Oder beinahe aus dem Nichts. Es fängt zum Beispiel damit an, dass einem, während man auf steilem Pfad durch die Ortler-Alpen kraxelt, plötzlich das Mauertal in den Sinn kommt und eine längst vergangene Begebenheit dort. Es kommt eins zum anderen. Gedanklich. Und schon hat man was zu erzählen.
Also, aufgepasst, es geht heute hier hoch hinauf, streckenweise über 3000 Meter. Doch um einen gehörigen Anlauf nehmen zu können, fangen wir schön unten an. Im Landkreis Heidenheim. Unsere mitten im Herbst noch einmal von der Wärme verschiedener Sommererlebnisse gespeiste, ein wenig quecksilbrig über Stock und Stein, von Fauna zu Flora hüpfende Geschichte beginnt nämlich bei Königsbronn.
Von Brenz und Inn
Dort wiederum muss man beispielsweise niemandem erzählen, was eine Wasserscheide ist. Hier weiß man, dass eine wichtige europäische Einrichtung dieser Art unweit vom Dorf dafür sorgt, dass zwei von ihrem Ursprung her sehr benachbarte, geographisch betrachtet beinahe für einander bestimmte Flüsse wie die märchenhaft besungenen Königskinder nicht zueinanderkommen können, sondern sich in gänzlich voneinander abgewandte Richtungen davonmachen. Er, der Kocher, über Aalen, den Neckar und den Rhein in die Nordsee; sie, die Brenz, via Heidenheim und die Donau ins Schwarze Meer. Bequem kann man diese Wasserscheide im Auto passieren und angesichts einer Hinweistafel an der Bundesstraße 19 über die Wunder dieser Welt räsonieren.
Wessen Phantasie sich von der Aussage eines Schildes zu wenig gekitzelt fühlt, wer lebhaftere Anregung vorzieht, dem sei im nächsten Südtirol-Urlaub die bequem zu bewerkstelligende Besteigung des 2808 Meter hohen Piz Lad empfohlen. Von dessen Gipfel aus ist es nämlich, wenn man das so sagen darf, möglich, einer Wasserscheide bei der Arbeit zuzuschauen. Denn blickt man nach Osten und auch ein wenig südlich, sieht man dort die noch quellfrische Etsch durch den Reschensee Richtung Adria eilen. Dreht man sich hingegen um und wirft den Blick die schroffe Nordflanke des Berges hinab, sieht man dort senkrecht weit, weit unten gerade noch so den Inn Richtung Donau rauschen, wo er womöglich sogar ein paar Tropfen des Brenzquellwassers aus Königsbronn kennenlernt.
Steinmann oder nicht?
Womit wir nun irgendwie gleichzeitig wieder in der Heimat angelangt wären und endlich doch auch in den Bergen. Im Reich der Steinmännchen, wo die schwäbische Ostalb, so sieht es aus, aber nur scheinbar aus der Welt ist und uns diesen Sommer hinter einer Felsenecke die innere Stimme mit folgender Frage konfrontierte: Lebt denn das alte Stoanmanderl noch?
Mal sehen. Und tatsächlich, es lebt noch. Hier, bei uns. Im Mauertal. Unweit von Söhnstetten. Aber ein richtiges Stoanmanderl ist es halt immer noch nicht. Das hatten wir vor nun doch schon einigen Jahren lediglich vermutet, als wir, durchs mediale Sommerloch schreitend, unsere heimische Nessie gefunden zu haben glaubten und diesen regelrechten Steinmann von einem Steinmännchen bewunderten, nur um bald darauf lernen zu müssen, dass es sich bei dem seit Sommer 1991 nicht zuletzt durch Mörtel an Ort und Stelle gehaltenen Pyramidenstumpf gar nicht um einen Steinmann handelt.
Das offenbarte uns damals einer, der es genau wissen muss: Horst Pommerenke. Der Steinheimer Künstler hatte das Steinmonument seinerzeit im Mauertal aufgestellt. Zusammen mit seinem Gerstetter Kollegen Helmut Hurler. Der Steinhaufen, eine unweit davon ins Nichts führende Steintreppe sowie ein nahebei befindlicher Steinkreis entstanden im Rahmen einer vom Land Baden-Württemberg und der Gemeinde Steinheim geförderten Kunstaktion im Anschluss an eine Flurbereinigung.
Kunst und Raum
Laut Horst Pommerenke symbolisieren die drei aufeinander bezogen zu betrachtenden steinernen Monumente die verschiedenen Raumdimensionen, wobei die Treppe als Verbindung fungiert. Grob formuliert sei seinerzeit die Idee gewesen, die Aufmerksamkeit auf Naturprozesse zu richten, die sämtliche Dimensionen auch im übertragenen Sinne einschließen, und solchen Gedanken eine konkrete Form zu geben. Aber, so fügte Pommerenke noch an, und so leid ihm das tue, mit einem Steinmännchen habe das Ganze nichts zu tun. Und daran hat sich nichts geändert, auch wenn Horst Pommerenke, wie er dieser Tage erzählte, selber auch schon ein paar Jahre nicht mehr vor Ort gewesen sei.
Man merkt also: Nicht immer liegt das, was man sucht, was man sich vorstellt, so nah. Kein Wunder, dass nach wie vor viele Leute in die Ferne schweifen. Zum Beispiel in die Alpen, denn dort gibt’s Steinmännchen, auch Stoanmandl oder Stoamanderl und, wie man heutzutage sicherheitshalber noch schnell hinzufügen sollte, auch Steinweibchen oder Stoaweiberl wie Sand am Meer.
Und wiederum ziemlich genau zwischen zwei Meeren, dem Adriatischen und dem Tyrrhenischen Meer, hatte vor mittlerweile mehr als 900 Jahren im toskanischen Arezzo der Mann das Licht der Welt erblickt, dem die, sagen wir mal, philosophisch angehauchte Alpinistenfraktion die Erfindung des Steinmännchens nachsagt.
Der Dichter und der Berg
Die Rede ist vom großen Petrarca, dem italienischen Dichter und Geschichtsschreiber, der als einer der Väter des Humanismus ebenso gelten darf wie, an der Seite von Dante Alighieri und Giovanni Boccaccio, als einer der wichtigsten Vertreter der frühen italienischen Literatur. Aber eben auch als Vater der Bergsteiger und Begründer des Alpinismus.
Und das kam so: Als im Jahr 1336 der 21-jährige Francesco Petrarca zusammen mit seinem Bruder in der Provence den 1912 Meter hohen Mont Ventoux besteigt – per Rad erklettert den noch heute ab und zu die Karawane der Tour de France –, erfährt er gleichsam ein Erweckungserlebnis und betrachtet fortan die Welt im Unterschied zur geltenden mittelalterlichen Vorstellung nicht mehr als für den Menschen sogar noch verderbliche Durchgangsstation, sondern misst ihr von diesem Augenblick an gleichsam eine eigene Wertigkeit bei. Da sich fortan, nicht nur bei Petrarca, neue Natur- und Landschaftserfahrungen auftun, wird die Besteigung des Mont Ventoux anno 1336 gern auch als Schlüsselmoment an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit betrachtet. Und ganz nebenbei gilt Petrarca seit dieser quasi ersten sehr bekanntgewordenen Bergbesteigung zum Selbstzwecke der Bergbesteigung eben auch als Begründer des Alpinismus.
Wichtige Orientierungshilfe
Fast noch interessanter im Sinne dieser Abteilung unserer Geschichte zu werten ist, dass Petrarca ebenso nachgesagt wird, er habe, um wieder vom Mont Ventoux hinab ins Tal zu finden, schon während des Aufstieges am Wegrand Steinmännchen aufgeschichtet. Womit der große Italiener auch noch der Erfinder des Steinmännchens zum Zwecke der besseren Orientierung in den Bergen wäre.
Das stimmt oder stimmt nicht. Wahr hingegen ist, dass, noch ehe, so um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die klassische Zeit des Alpinismus begann, in der dem Steinmännchen als Orientierungshilfe in unwegsamem Gelände, bei Nebel oder als Landmarke bei Übergängen äußerste Wichtigkeit zukam und immer noch zukommt, das Steinmännchen längst bekannt war.
Denn die Berge existierten nachweislich ja schon in Zeiten, als sie noch kein Urlaubs- oder Ausflugsziel waren. Und da bereits kennzeichneten Steinmännchen die Pfade von Dorf zu Dorf oder wichtige Passwege über Gebirgskämme, die vom einen ins andere Tal führten. Wege, die man, insbesondere bei schlechter Sicht oder Schnee, auf gar keinen Fall verfehlen durfte.
Verwechslungsgefahr
Von Generationen von Einheimischen wurden die Steinmänner deshalb instandgehalten. Wobei man seit einigen Jahren schon auch genau hinschauen muss, ob man etwa ein echtes oder gar ein falsches Steinmännchen vor sich hat. Denn nicht geübten Augen kann es mittlerweile schwerfallen, zwischen einem wirklich zur Orientierung platzierten Männchen und solchen zu unterscheiden, die von der Hand der von den Originalen beeinflusst handelnden Bergtouristen aus kindlicher Freude am Spieltrieb oder aus einem künstlerischen Impuls heraus ziellos in die Landschaft gestellt wurden.
Und weiterhin und mal ganz abgesehen vom bisher Gesagten: An nicht wenigen Orten auch in den Alpen, wo etwa mehrere Männchen beieinanderstehen, hatte man schon vor Jahrhunderten ehedem als heilig geltende Orte der Ureinwohner vermutet. Wobei man solche Stellen wiederum nicht mit jenen verwechseln sollte, wo sich die im Absatz zuvor erwähnte Spezies von Bergbesuchern in der Kunst der Land Art versucht hat. Steinmännchen, ob als Orientierungshilfe, als Grenz- und als Gipfelmarkierung oder als Merkmal kultischer Stätten, sind tatsächlich allen Kulturen eigen und finden sich in teils mannigfacher Form in Skandinavien ebenso wie bei den Eskimos, im Vorderen Orient, in Tibet, der Mongolei oder in Südamerika.
Zum Ausklang Blumen
Nur nicht, wie wir nun wissen, im Mauertal bei Söhnstetten, von wo aus wir, ehe dieser Ausflug mit der fröhlichen Erkenntnis endet, nichtsdestotrotz wieder etwas gelernt zu haben und dabei zumindest geistig an die frische Luft gekommen zu sein, noch einmal in die Berge zurückkehren, wo sich der Kreis dieser Geschichte, der an einer Wasserscheide begann, an einer Pflanzenscheide schließt.
Und wieder kommt hier der Inn ins Spiel, dieses Mal als Grenze. Denn tatsächlich nur östlich von ihm – und schon allein deshalb nie im Landkreis Heidenheim – blüht in den höheren Alpenlagen der Rätische Mohn, Papaver aurianticum Loisel an nicht allzu vielen Standorten. Zu diesen etwa gehört auch der Aufstieg zum ziemlich genau auf der Staatsgrenze zwischen der Schweiz und Italien in den westlichen Ortler-Alpen aufragende Piz Umbrail (3033 m), wo sich die Blume mit den gelben Kronblättern in eigentlich lebensfeindlicher Umgebung auf steilen Schuttflächen dank langer Pfahlwurzeln in diesem Sommer in geradezu verschwenderischer Fülle bis beinahe zum Gipfel hinauf festkrallte. Ein wirklich seltener Anblick in schon dünner werdender Luft, dessen Kostbarkeit vielleicht Heidenheimer Flachländer nachvollziehen können, die um die Verstecke der hierzulande ebenso berühmten wie raren Schlossblume wissen.