In der Geschichte der Fußball-Bundesliga gab es immer wieder Treffer, die keine Treffer waren. Das erste sogenannte Phantomtor wird dem Dortmunder Reinhold Wosab zugeschrieben, der am 27. März 1965 im Heimspiel gegen den Karlsruher SC das Außennetz traf, von wo aus sich der Ball am Pfosten vorbei über die Linie mogelte. Der Schiedsrichter gab den „Treffer“ zum 4:1 für den BVB.
1994 unterlief Thomas Helmer das wohl bekannteste Phantomtor, als er für den FC Bayern im Heimspiel gegen Nürnberg den Ball knapp am Gehäuse vorbei ins Toraus beförderte. Zum Erstaunen aller hatte der Schiedsrichter auf Intervention des Linienrichters einen regulären Treffer gesehen.
Zum möglicherweise letzten Phantomtor der Bundesliga-Geschichte aber stand die TSG Hoffenheim, die am Sonntag, 27. Oktober, zu Gast beim 1. FC Heidenheim ist (19.30 Uhr), Pate. Als der Leverkusener Stefan Kießling am 18. Oktober 2013 im Anschluss an eine Ecke per Kopf das 2:0 für sein Team markierte, hatte im ersten Moment noch niemand bemerkt, dass die Kugel eigentlich am linken Pfosten vorbeigegangen war, aber durch ein Loch im Netz von außen ins Tor gelangte.
Das Tor, das keines war, führte dazu, dass Leverkusen an jenem Freitagabend aufgrund eines 2:1-Sieges in Hoffenheim die Tabellenführung übernahm. Aber die Folgen des „Treffers“ reichten noch weiter. Der Ruf nach der Torlinien-Technik wurde immer lauter, so wurde zur Saison 2015/16 das „Hawk Eye“ eingeführt. Auch Löcher im Netz oder vermeintliche Treffer übers Außennetz können seitdem dem technisch unbestechlichen „Falkenauge“ nicht mehr entgehen.
Als Stefan Kießling damals in der 71. Minute ein Tor bejubelte, das keines war, stand für den damaligen Schiedsrichter Dr. Felix Brych außer Frage, dass der Treffer korrekt erzielt wurde. „Keiner, auch nicht Kießling, hat mir gesagt, dass es kein Tor war“, sagte der Fifa-Referee hinterher.
Reservisten der TSG Hoffenheim, die sich hinter der Torauslinie warmliefen, entdeckten zwar wenig später das Loch im Netz. Doch Brych hatte schon weiterspielen lassen und konnte seine Entscheidung nicht mehr zurücknehmen.
Teile der Öffentlichkeit warfen Stefan Kießling, der nun wahrlich nicht als unfairer Sportsmann bekannt war, vor, er habe den Schiedsrichter nicht sofort auf die Fehlentscheidung aufmerksam gemacht. Doch der Bundesliga-Torschützenkönig jener Saison (25 Treffer) bekräftigte immer wieder, den Fauxpas selbst nicht entdeckt zu haben: „Ehrlich, ich habe es nicht gesehen. Erst als mir die Hoffenheimer das Loch gezeigt hatten, wurde es mir klar. Es war eine Scheiß-Situation für mich.“
Polizeischutz für die Familie von Stefan Kießling
Diese Situation sollte sich für den sechsfachen Nationalspieler noch verschärfen. Wegen übler Beschimpfungen und Drohungen musste er seine Facebook-Seite schließen, die Familie bekam ein halbes Jahr lang Polizeischutz. Kießling soll auch die Hilfe eines Sportpsychologen in Anspruch genommen haben. Noch fünf Jahre später, 2018, bekräftigte der neue „Buhmann der Nation“, es habe Momente gegeben, in denen er diese Szene verfluchte: „Das Tor verfolgt mich bis heute.“
Die TSG jedenfalls zog seinerzeit vor das Sportgericht. Dort wurde der Protest zurückgewiesen, mit der Begründung, es habe sich um eine Tatsachen-Entscheidung gehandelt. Auch der Vorschlag von Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler, das Spiel beim Stand von 0:1 für die letzten 19 Minuten nachträglich fortzusetzen, blieb ungehört.
Stattdessen konnte sich der Vorsitzende Richter des Sportgerichts, Hans E. Lorenz, einen Seitenhieb auf Hoffenheims Zeugwart nicht verkneifen: „Wer mit einem defekten Netz in ein Bundesliga-Spiel geht, muss sich nicht wundern, wenn es ein defektes Ergebnis gibt.“
Das defekte Netz soll 2014 für 100.000 Euro an die Aktion „Ein Herz für Kinder“ versteigert worden sein. Das Torgehäuse befindet sich seit 2015 im Auto- und Technikmuseum Sinsheim. Stefan Kießling will es nicht mehr sehen: „Das Phantomtor war der schlimmste Treffer meines Lebens.“