Die härteste Phase im Leben von Leonardo Scienza begann an seinem 20. Geburtstag. Am 13. September 2018 verstarb sein Vater. Nur wenige Wochen später schien seine große Chance gekommen zu sein: Ein Berater versprach ihm ein Probespiel bei einem schwedischen Proficlub. „Ich habe alles hinter mir gelassen“, erzählt Scienza rückblickend. Nur, die Chance entpuppte sich als riesige Enttäuschung: „Ich bin alleine, keine Familie, keine Freunde, kein Geld, kein Bett, kein Zimmer, ich hatte gar nichts“, beschreibt der Brasilianer seine Situation fern von der Heimat. Er war beim Fünftligisten Fanna BK gelandet, musste auf einer dünnen Matratze im Haus des Vereinsbosses schlafen und bekam das versprochene Gehalt nie ausgezahlt. „Ich habe eineinhalb Jahre auf die Zähne gebissen“, sagt der Offensivspieler und ergänzt: „Es hat sich gelohnt.“
Jetzt, im Alter von 25 Jahren, lebt Scienza seinen Kindheitstraum. Mit dem 1. FC Heidenheim bereitet sich der Neuzugang vom SSV Ulm gerade in Volders in Tirol auf die anstehende Bundesliga-Saison vor. „Es ist jeden Tag ein Traum für mich hier zu sein, mit der Mannschaft und einer Legende wie unserem Coach“, freut sich Scienza.
Scienza: „Ich bin ein großer Mix“
Der Flügelspieler ist ein Fußball-Spätstarter. Bis er 16 Jahre alt war, spielte er „immer Futsal, nur Futsal“. Die Fünf-gegen-Fünf-Hallenversion von Fußball ist in Brasilien, Scienzas Heimat und die seines Vaters, sehr beliebt. Aber auch eine deutsche Seite hat der FCH-Profi, der mit vollem Namen Leonardo Weschenfelder Scienza heißt. Einen deutschen Pass besitzt er aber nicht, stattdessen einen aus Luxemburg, wo er ebenfalls Vorfahren hat. Scienza spricht gut Deutsch, wechselt aber immer wieder ins Englische. „Ich bin ein großer Mix“, sagt er und lacht.
Wenn ich es über diese Zeit schaffe, schaffe ich alles.
Leo Scienza über die schwierige Phase in Schweden
Zum Conference-League-Teilnehmer aus Heidenheim kommt Scienza mit der Empfehlung von zwölf Toren und 15 Vorlagen in der dritten Liga und dem Meistertitel mit dem SSV. Auf der Instagram-Seite der Spielklasse wurde er dafür von Fans zum Spieler der Saison gewählt. Den Grundstein für seinen steilen Aufstieg legte Scienza nicht wie erhofft in Schweden, sondern in nur zehn Minuten auf einem Fußballplatz in Gelsenkirchen.
Zehn ganz besondere Minuten: Scienzas große Chance
Was war geschehen? Während Scienza noch immer in Schweden weilte, wurde er dem Chefscout des FC Schalke 04, Manfred Dubski, empfohlen. Der war schnell überzeugt. „Ich bin mit dem Auto über 15 Stunden gefahren“, erzählt Scienza, der für seine Sachen nur einen Rucksack braucht. Schon am nächsten Tag wurde der Jungspieler ins kalte Wasser geworfen.
Ohne je mit der Mannschaft trainiert oder gesprochen zu haben, wurde Scienza in der zweiten Halbzeit eines Testspiels der Schalker U 23 eingewechselt: „Nach fünf Minuten habe ich ein Tor gemacht, nach acht fast das zweite, nach zehn Minuten hat mir ein großer Verteidiger fast die Beine gebrochen“, beschreibt Scienza die Momente, die sein Leben auf den Kopf stellen sollten. Denn: Chefscout Dubski war immer noch überzeugt und der Junge aus Brasilien hatte es in die Knappenschmiede, die Nachwuchsakademie des FC Schalke 04, geschafft. Ein Erfolg, der Erinnerungen weckte: „Ich habe als Kind nach der Schule immer Champions League geguckt, mit Bayern, Borussia Dortmund und Schalke.“
Kraft durch Familie und Glaube
Viel Kraft auf seinem bewegten Weg nimmt Scienza aus dem Glauben. „Ich bete viel und lese jeden Tag die Bibel“, sagt der 25-Jährige. Auch seine Familie gebe ihm großen Rückhalt. Aber auch das Vertrauen in sich brachte ihn wohl bis in die oberste deutsche Spielklasse. „Wenn ich es über diese Zeit schaffe, schaffe ich alles“, habe er sich in Schweden immer wieder gesagt.
„Alles“ ist zunächst einmal Heidenheim. „Ich habe das Gefühl, ich kenne die Jungs schon ein paar Jahre“, sagt Scienza, der im Training nur Leo gerufen wird. Beim FCH sei es bisher „superschön“, die Trainingseinheiten unter Frank Schmidt aber auch immer wieder „unglaublich intensiv und unglaublich hart“. Trotz des höheren Niveaus sieht er Parallelen zwischen dem FCH und dem SSV Ulm, etwa wenn es um das familiäre Klima im Verein und den Zusammenhalt in der Mannschaft geht.
Scienza, der weiter in Ulm wohnt, weiß, dass er in kurzer Zeit viel lernen muss: „Du musst fast perfekt sein in der Bundesliga.“ Es ist nicht die erste, aber sicher eine der schönsten Prüfungen im Leben des Brasilianers.
Die bewegte Karriere von Leonardo Scienza
Beim 1. FC Heidenheim hat Neuzugang Leonardo Scienza bis Juni 2027 unterschrieben – füllt er ihn aus, wäre es die längste Zeit bei einem Club in seiner Karriere. Nachdem er zuvor Futsal gespielt hatte, startete der 25-Jährige seine Fußballkarriere als Teenager in seiner Heimat Brasilien. Für kurze Zeit lief er auch für ein Team in Uruguay auf. 2019 folgte dann der Wechsel zu Fanna BK nach Schweden. In Deutschland zog es den Offensivspieler nach zwei Jahren bei Schalke II zum FC Magdeburg. Vom FCM ging es schließlich im letzten Sommer zum SSV Ulm, von wo aus Scienza der Sprung in die Bundesliga gelang.